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2014-12-27 Nachruf

Ich kannte nur seinen Hausnamen

Von Delia Evers | Nachruf auf einen alten Herrn

Bis heute morgen kannte ich nur seinen Hausnamen.

Vor 14 Tagen hatte ich den alten Herrn aus Haxtum zum ersten Mal in meinem Leben gesehen, und wir haben wenige intensive Stunden miteinander verbracht. Jetzt weiß ich seinen Vornamen.

Der Mann hatte sich zusammen mit seiner ebenfalls hochbetagten Lebensgefährtin – beide über 90 – für den Mobilen Einkaufswagen angemeldet. Sie hatte sich sorgfältig zurechtgemacht und sah sehr schön aus. In der Adventszeit sollte es nach Leer gehen, für eine besonders stimmungsvolle Ausfahrt. Zu Sechst saßen wir schließlich im Boni-Bulli: die beiden aus Haxtum, ein ebenfalls über 90-jähriger Herr, den ich zuvor in Münkeboe abgeholt und mit seiner feinen Art schon schätzen gelernt hatte, und als Begleiter Alfred, Hildegard und ich.

Für den Herrn aus Haxtum fing es nicht gut an. Er meckerte ein bisschen. Und kaum waren wir angekommen, wollte er mit seinem Rolli nicht losspazieren wie die beiden anderen, sondern sitzen. Er nahm die erstbeste Bank und erklärte, die werde er nicht verlassen. Alfred, der Plattsprecher unter uns, setzte sich neben ihn, plauderte dies und das, hörte zu und bewegte den Mann schließlich doch bis zu einem nahen Café mit bester Aussicht in alle Richtungen und auf alle Passanten.

Wir restlichen Vier waren derweil losgezogen. Hildegard und ich freuten uns an der Freude der beiden Einkäufer. Sie schoben ihre Rollis ohne jeden Zeitdruck durch die Geschäfte und nahmen gern unsere Hilfe beim Tragen, Beraten, Suchen und Nachfragen in Anspruch.

Als wir zum Café kamen, fanden wir Alfred und den alten Herrn in bester Plauderlaune.

Während der Rückfahrt setzte ich mich neben ihn. Er war etwas erschöpft – doch unerschöpflich blieb sein Redestrom. Er fragte allerhand und bemühte sich dabei, für mich Hochdeutsch zu sprechen, wollte wissen, wo ich wohne, wen ich in Großheide kenne, und ob mir dieser oder jener – er nannte viele Namen – schon einmal begegnet sei; er entwarf einen ganzen Ortsplan vor mir, erzählte, in der Straße Sowieso hätte der Schoolmeester XY gewohnt: Ob ich den Lehrer kennte? Nein, leider nicht. Die Bekanntschaft zwischen meinem Sitznachbarn und dem Schoolmeester, so stellte sich schnell heraus, hatte sich vor meiner Geburt ereignet.

Der alte Herr wollte genauer wissen, warum wir, wildfremde Leute, ihn durch die Gegend kutschierten, und staunte ein bisschen, als er, der Protestant, hörte, dass wir anderen katholisch sind. Wir waren schon fast vor seiner Haustür, als er eine kleine Pause einlegte und plötzlich bewegt sagte: „Danke, ich fand es sehr schön.“

Wir brachten ihn und seine Lebensgefährtin ins Haus. Jetzt, da er seinen Sessel vor Augen hatte, verließ ihn fast die Kraft. Er hing schwer an meinem Arm und machte Anstalten, sich auf den Boden sacken zu lassen. Ich fuhr ihn mit lieber Strenge an, die drei Meter werde er selbstredend schaffen: „Und auf!“ Wir ruckelten weiter, er rutschte in den Sessel, saß da und strahlte übers ganze Gesicht.

Inzwischen war Alfred mit der Dame hinzugekommen, und der Herr nahm Alfred und mich in den Blick, griff meine Hand mit seinen beiden Händen, umschloss sie und sagte: „Es war so schön. Danke, danke für alles.“ Die Tränen wollten ihm kommen. Da führte er meine Hand so behutsam, als sei sie zerbrechlich, an seinen Mund und setzte einen Kuss auf.

An einem einzigen Tag meines Lebens bin ich ihm begegnet. Im Mobilen Einkaufswagen. Der hat an diesem Tag mehr bewegt als drei Einkäufer und ihre Taschen.

Heute morgen las ich in der Tageszeitung die Todesanzeige. An Weihnachten ist er gestorben.

Er hieß Cornelius.