2019-11-03 | Johann Jäger und sein weises Herz

Von einem besonderen Grabstein erzählte Pfarrer Johannes Ehrenbrink während der Andacht zur Gräbersegnung in Aurich. Mit der Inschrift sprach der Verstorbene den Betrachter seines Grabsteins an.

„Er steht in der Kirche des Klosters Loccum. Darauf ist zu lesen, dass Johann Jäger, Meister des Maurer- und Steinhauerhandwerks, geboren 1691 in Gera, fast drei Jahrzehnte dem Kloster gedient hat und im Alter von 63 Jahren ‚in Christo allhier in Loccum selig entschlafen‘ ist.“

Unter diesen Lebensdaten findet sich der Spruch:

Nun Sterblicher betrachte mich: Du lebst – ich lebt‘ auf Erden. / Was du jetzt bist – das war auch ich; was ich bin – wirst du werden. / Du musst hernach – ich bin vorhin, / gedenke nicht in deinem Sinn, dass du nicht dürftest sterben.

Der Grabstein. Das Foto ist einem Gemeindebrief der ev.-luth. Kirchengemeinden St. Johannis Lüchow und St. Marien Plate entnommen.

Johannes Ehrenbrink weiter: „Johann Jäger spricht mit dem Betrachter seines Grabsteines. Erinnert die Lebenden an ihre Endlichkeit. Erinnert daran, dass die Toten einst lebten, nun aber vorangegangen sind auf die andere Seite des Lebens; und erinnert daran: Auch du, der du dich jetzt lebendig fühlst, wirst sterben.“

In der Bibel heiße es: „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz“ (Ps 90,12). Die Grabinschrift wirke wie eine Ausführung dieses Psalmverses. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, übersetze die Lutherbibel.

Ein bedenkenswerter Perspektivwechsel, den der verstorbene Johann Jäger mit seiner letzten Botschaft vorgenommen hat: Sonst stehen Menschen trauernd vor dem Grab eines Verstorbenen. Hier wendet sich der Verstorbene an die Trauernden.

Dabei werde ich das Gefühl nicht los, dass Johann Jäger sich im „Vorteil“ sah. Er und sein Tod müssen nicht betrauert werden. Johann ist „vorhin“, er ist dem Betrachter voraus; der muss noch hinterher.

Der Spruch hat etwas seltsam Tröstliches. Der Verstorbene hat es geschafft. Er ist am Ziel seines Lebens angekommen. Die Zurückbleibenden müssen weiterackern. Wer bedenkt, dass er sterben wird, hat eine Vorstellug davon, wie er ackern sollte. Zum Beispiel so, wie es in einem Text* beschrieben ist, den Johannes Ehrenbrink zitierte:

Grabausschnitt (entnommen: ebenda).

„Ich will in dieser Woche leben, als wäre es die letzte meines Lebens. Ich will in dieser Woche einem Menschen, den ich liebe, so begegnen, als sähe ich ihn zum letzten Mal. Ich will durch den Wald gehen und das Laub fühlen, als gäbe es nie mehr einen Herbst für mich. Ich will ein Buch so lesen, als würde es danach keines mehr geben für mich. Ich will noch einmal einen guten Wein öffnen und ihn trinken, als wäre es das letzte Glas in meinem Leben. Ich will noch einmal Musik hören, noch einmal etwas Wunderbares kochen, noch einmal den Regen auf meiner Haut spüren und mich an den zaghaften Strahlen der Sonne freuen. Noch einmal möchte ich herzlich lachen …“

Das, so beschreibt der Pfarrer seine Ahnung, „wird meinem Leben alle Oberflächlichkeit nehmen, wird dem Moment Tiefe und Bedeutung geben“.

Johann Jäger hat ziemlich sicher ein weises Herz besessen. Über seinen Namen hat er in seinen Grabstein meißeln lassen:  „Hier ruht in Erwartung einer fröhlichen Auferstehung  Johann Jäger.“

Das ist stark, sagt herzlich eure
Turmflüsterin

Nach der Andacht begaben sich Pastoralteams auf den Friedhof. Überall da, wo Angehörige oder Bekannte standen, sprachen die Teams ein Gebet und segneten die Gräber.

* Text aus: Arbeitshilfe des Bergmoser und Höller Verlags