Waldmann, Joseph † | Er erlebte einen ganzen Roman

Am Samstag, 29. April 2017, jährte sich der Geburtstag von Joseph Waldmann zum 95. Mal. Er erlebte einen ganzen Roman. Viele in St. Ludgerus kannten den alten Herrn. Er starb am Samstag, 15. September 2018.

Joseph Waldmann – das war der Flüchtlingshelfer, der freundliche Fahrgast im Mobilen Einkaufswagen, der Technikbegeisterte, der Mann, der gern seine eigene Drohne steigen ließ und der mit seinem Computer fertig wurde, als sei er von Kindesbeinen an damit groß geworden.

Und Joseph Waldmann war der mit dem bedachten Dreirad. Bis in sein letztes Lebensjahr erkundete der hochbetagte Herr bei gutem Wetter mit seinem Trike die Umgebung und besuchte in Aurich die Heilige Messe.

Joseph Waldmann 2016 beim Pfarreiengemeinschaftsfest in Aurich mit seinem Dreirad.

Gern war er Gast im Mobilen Einkaufswagen. Wenn das Team ihn holte, stand er längst fertig und hatte seine Einkaufsliste in der Tasche.

Zur Welt kam Joseph Waldmann 1922 in Halle an der Saale in der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg. Er hatte fünf Geschwister. Einige starben früh. Seine Mutter verlor er im Alter von zwei Jahren. Er erinnert sich an die Bitterkeit und die Trauer des Vaters, der kaum weiterwollte.

Kleinkind Joseph.

Doch er fasste Tritt und heiratete die Schwester seiner Frau. „Hätte ich nicht gewusst, dass sie meine Stiefmutter war, hätte ich es nicht gemerkt“, sagte Joseph Waldmann.

Nach dem Abitur schrieb er sich an der Hochschule Dresden für Luftfahrttechnik ein. Sein Studium trat er nicht an. Die Nazis hatten den Zweiten Weltkrieg entfesselt. 1941 zogen sie Joseph ein und schickten ihn zur militärischen Grundausbildung nach Posen, dann nach Warschau. Er bewarb sich beim „fliegenden Personal“ und lernte Funk- und Nachrichtentechnik.

Die Erinnerung an diese Zeit nahm ihn bis zuletzt mit. Er hatte sich einen Fotoapparat gekauft und war durch die Stadt gestreift. Immer wieder begab er sich in die Nähe des Warschauer Ghettos und machte Aufnahmen. Ab Mitte 1940 hatten die Nazis Juden dorthin deportiert – insgesamt 500.000.

Joseph an seinem vierten Geburtstag.

Joseph Waldmann fotografierte furchtbares Elend. Kameraden redeten ihm zu, dem Lager fern zu bleiben. Sie fürchteten, er könne verhaftet werden. Bei einem Heimaturlaub sagte er seinem Vater: „Wenn die Deutschen den Krieg gewinnen, verliere ich den Glauben an die Menschheit.“

Er ahnte nicht, dass der Aufstand der Juden im Ghetto im Frühjahr 1943 noch einen deutschen Mordrausch sondergleichen auslösen würde.

Zu dieser Zeit war Joseph Waldmann bereits nach Saporischschja am Dnepr in die Ukraine abkommandiert.

Er arbeitete im Büro eines Feldluftparks als Verwalter, sichtete Material, das von der Front zurückkam, sortierte aus oder organisierte Reinigung und Reparatur.

Spätestens Mitte 1944 machte unter den Kameraden das Wort vom „Heldenklau“ die Rede: Soldaten, die wie Joseph Waldmann nicht im Feld standen, sollten „als Kanonenfutter“ an die Front. Dabei dämmerte den Männern, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Joseph Waldmann meldete sich freiwillig zu den Fallschirmspringern. Er wusste, dass er dafür eine Ausbildung absolvieren musste, und hoffte, dass die Zeit für ihn arbeiten würde.

Er kam ins emsländische Haselünne. Flugzeuge und Flugbenzin waren längst Mangelware. Das Springen übten sie aus Bäumen. Dann wurde Joseph Waldmann für einen Einsatz mit der Infanterie gedrillt. Im Dezember 1944 entfesselten die Deutschen die Ardennenoffensive. „Es war ein Verbrechen, diese Offensive noch zu starten.“

Joseph Waldmann gehörte zur ersten Sturmtruppe. Im Kampfanzug trug er über dem Herzen ein schwarzes Gebetbüchlein. Am zweiten Einsatztag kreuzten amerikanische Panzer ihren Weg. „Die haben uns abgefischt.“ Am 16. Dezember 1944 hatte die Schlacht begonnen, am 18. Dezember war Joseph Waldmann in amerikanischer Gefangenschaft. Das Gebetbüchlein hat er bis heute verwahrt.

Joseph Waldmann mit Tochter Anna-Maria Müller und Schwiegersohn Werner Müller. Der Altersjubilar erlebte einen ganzen Roman.

Er wurde in ein Lager bei Marseille gebracht. Dort unterhielten die Amerikaner eine Verschiffungsbasis für den Krieg in Fernost. Sie brauchten Arbeitskräfte. Joseph Waldmann meldete sich als Kraftfahrer. Er besaß keinen Führerschein. Die Kameraden machten sich gegenseitig kundig.

Joseph Waldmann bekam seinen ersten Fahrbefehl und tuckerte zu einem Lebensmittellager in der Nähe. Die Entfernungen wurden größer. Er fuhr ohne Bewachung nach Reims und Paris. „Das war herrlich. Ich kam raus. Ich sah diese Städte.“ Er trug eine amerikanische Uniform. Nur zwei kleine Buchstaben am Kragen verrieten, dass er Kriegsgefangener war. Einmal geriet er im längst befreiten Paris in ein Straßenfest. Junge Mädchen bejubelten den „Amerikaner“ und herzten ihn reihenweise. „Wenn die gewusst hätten, dass ich Deutscher bin, wäre das anders ausgefallen.“

Auch nach Ende des Kriegs dachte er nicht daran sich abzusetzen. „Ich bekam Post aus Deutschland. ‚Komm bloß nicht zurück.‘ Da war ja alles zerstört. Mir ging es gut. Ich war der ungekrönte König der Landstraße.“ Er bekam Marschverpflegung mit. Die tauschte er gegen frische Eier und Wein.

Im Februar 1947 entließen ihn die Amerikaner. In seiner Heimatstadt Halle machte er eine Ausbildung zum Ankerwickler: Er lernte Sägen, Meißeln, Feilen, Drehen, Fräsen, Löten und Schweißen; er schärfte und härtete Werkzeuge und fertige welche an.

Joseph Waldmann zog ohne Papiere über die „grüne“ Zonengrenze zu Verwandten ins Allgäu und half schwarz in ihrer Mühle mit Eigenerzeugeranlage, ehe er sich auf eine Stellenanzeige bewarb. Eine Unternehmung in Wuppertal suchte einen Ankerwickler. Er schaffte parallel zur neuen Arbeit in Abendsemestern an einer Bildungseinrichtung (heute Bergische Akademie) seinen Ingenieur.

Walburga und Joseph Waldmann 1953 bei ihrer Hochzeit.

Der Umzug ins Bergische erwies sich als Glücksfall seines Lebens. Bei der Hochzeit einer Cousine lernte er eine zwei Jahre jüngere Frau aus Gevelsberg kennen: Walburga – sie wurde seine Frau. Sie heirateten 1953. Erst danach konnten sie eine gemeinsame Wohnung beantragen. Das Verfahren zog sich hin. So wechselte Joseph zu einem neuen Arbeitgeber – der Siemens AG – nach Nürnberg, während Walburga noch im Bergischen blieb.

Die beiden hatten, erzählte der alte Herr augenzwinkernd, von ihrer Hochzeitsreise ein Andenken mitgebracht. Genau neun Monate später, im April 1954, waren Stefan und Georg auf der Welt. Weitere Kinder folgten dicht auf dicht: 1955 Engelbert, 1956 Anna-Maria, 1958 Michael und 1960 Norbert – sechs Kinder in sechs Jahren.

Richtig heimisch wurde die Familie – nach gemeinsamen Jahren in Nürnberg – 1975 im Eigenheim abseits der Großstadt im oberpfälzischen Laaber. Joseph Waldmann hatte das Haus nach eigenen Plänen und überwiegend mit eigenen Händen erstellt. Es wurde ein weltoffenes Haus. Über die Siemens AG kamen Besucher aus verschiedenen Ländern, auch die ersten Schwarzen, die das Dorf staunend betrachtete.

Die Kinder genossen ihre Freiheit. So erzählte Tochter Anna-Maria Müller einmal in einem Gespräch begeistert von technischen Tüfteleien daheim, von abenteuerlichen Ausflügen und Wanderungen in Höhlen, die für die Öffentlichkeit nicht zugänglich waren. „Mutter durfte nichts davon wissen“, erinnerte sich die Tochter lächelnd. „Vater war spontan“ und für alles Spannende zu haben. „Wir sind ganz tief in die Höhlen gerobbt und haben Fledermäuse gefangen.“

Daheim stand ein ausgedienter Messerschmitt Kabinenroller, an dem die Kinder nach Herzenslust schrauben konnten. Der Vater ließ seinen Nachwuchs ans Schweißgerät. Er traute ihnen viel zu. Sie schmolzen Glas und konstruierten Modellflugzeuge aus leichtem Balsaholz.

Vier der Waldmann-Kinder arbeiten heute in technischen Berufen – wie der Vater, der bei Siemens bis zu seinem ersten Rententag 1982 leitend in der Arbeitsvorbereitung tätig war.

Walburga und Joseph Waldmann mit ihren Kindern.

Er und seine Walburga gönnten sich fortan Reisen quer durch Europa. Schon als junger Mann hatte Joseph Waldmann viel gesehen. So war er im Heiligen Jahr 1950 mit einem Jugendpilgerzug nach Rom gefahren. Gern hätte er vorher Informationen über die Ewige Stadt eingeholt, aber es gab keine. So hielt er später selbst vielfach Vorträge über Rom und zeigte 100 seiner Fotos.

Mit einem Freund tourte er auf einem Roller mit „62 Spitze“ nach Lourdes und durch die Pyrenäen bis nach Spanien hinunter.

Mit diesem Roller überwand Joseph Waldmann Anfang der 1950er-Jahre die Pyrenäen.

Auf großen Flüssen paddelte er Hunderte von Kilometern mit seinem Poucher Faltboot aus DDR-Produktion samt Segelanlage und Außenborder. Längst haben solche Boote Kultstatus.

Im Faltboot auf Flusswanderung.

Mit der Familie war er in einem VW-Bulli unterwegs, ein Schnäppchen für 100 Mark. Muckte der Wagen, schraubten Vater und Kinder ihn in der eigenen Montagegrube zurecht.

Joseph Waldmann war 83, als er einen Herzinfarkt erlitt. Walburga Waldmann war an Demenz erkrankt. Ohne lange zu fackeln, folgte er dem Angebot seiner Kinder Anna-Maria und Werner Müller, nach Ostfriesland zu kommen. Hier wollten die beiden in guter Gemeinschaft für die Eltern da sein. Zum 1. Januar 2007 zog das betagte Paar um und fühlte sich von Anfang an wohl – wegen ihrer Kinder, der flachen Landschaft, der freundlichen Nachbarn und der guten „ökumenischen Kontakte“. Bis zuletzt besuchte Joseph Waldmann gern evangelisch-lutherische Gottesdienste in der Kirche Zum guten Hirten, liebte die Musik des Posaunenchors und gesellte sich zu Alterskreis und Gemeindefrühstück.

Als 2008 seine Frau Walburga starb, war er froh, bei seinen Kindern in Ostfriesland zu sein.

Beide unterstützen intensiv (und mit einem Bundespreis ausgezeichnet) Flüchtlinge in Georgsheil. Sie brachten zwei Jesiden zu Joseph Waldmann, die nur Kurdisch sprachen. Er unterrichtete sie in Deutsch, Alltags- und Kulturkompetenz. Er staunte, dass sie verlässlich sechs Mal in der Woche bei Wind und Wetter mit ihrem Rad von Georgsheil zu ihm nach Münkeboe kamen, um zu lernen.

„Mir hat die Arbeit Spaß gemacht“, sagte er. „Außerdem habe ich selbst einen Krieg erlebt…“ Aus seiner  Zeit in der Ukraine wusste er, wie Fremdsein im Krieg sich anfühlt.

Gute Technik begeisterte Joseph Waldmann. Hier zeigte er seine Drohne. Gestartet wurde sie natürlich vom Boden aus.

Hatte Joseph Waldmann Angst vor dem Tod? „Nein“, sagte er entschieden. „Ich habe mein Leben gelebt. Und ich habe es genossen.“

Dann zeigte er sein feines, verschmitztes Lächeln: „Ich brauche keinen Roman zu lesen. Ich habe einen erlebt!“

Der betagte Herr starb am 15. September 2018.

Die Trauerandacht fand am Samstag, 22. September, in der evangelisch-lutherischen Kirche „Zum guten Hirten“ in Münkeboe statt. Anschließend war die Urnenbeisetzung.