Frohe Weihnacht für eine alte Frau

Eine frohe Weihnacht wünscht die Turmflüsterin allen Leserinnen und Lesern mit ihrer Erzählung über eine alte Frau, die Heiligabend allein verbrachte. Oder war sie gar nicht allein?

Am Mittag von Heiligabend wurde sie unruhig. Sie schaute nach dem Adventskranz in der Küche. Vier Kerzen brannten. Sie löschte sie, trat ans Fenster und fand alles wie immer. „Advent“, dachte sie, „Ankunft“. Zu ihr war seit Jahren niemand gekommen. Sie ging ins Wohnzimmer und blieb vor dem Adventskalender stehen.

Einen Augenblick war sie versucht, das Doppel-Törchen mit der 24 zu öffnen. Schnell nahm sie die Finger zurück. In der Heiligen Nacht würde sie eine einzige Freude haben. Sie würde die glitzer-bestäubten Türflügel öffnen und einen Blick auf das Kind in der Krippe werfen.

Die eigene Krippe hatte sie seit Jahren nicht aufgebaut. „Ohne Baum gibt’s keine Krippe“, sagte sie, „und ohne Krippe keinen Baum. So ist das eben.“

Sie blickte noch immer auf den Adventskalender. Aus Törchen 23 schaute ein Hirte heraus. „Du siehst keck aus“, sagte sie zur Miniatur, „was willst du?“

Kaum hatte sie den Satz gesprochen, hörte sie eine Ansage: „Erwarte Ihn zu später Stunde. Ankunft vor Mitternacht.“ Erschrocken klappte sie das Törchen zu.

Dann lachte sie und schimpfte sich gutmütig aus: „Sei nicht albern, Alte!“ So war die Einsamkeit. Die Gespenster kamen von allein.

Sie klappte das Törchen wieder auf, setzte sich aufs Sofa, wickelte eine Wolldecke um ihre Beine und schnippte sich mit der Fernbedienung durchs Festprogramm. Sie schaute ohne Freude hin und merkte, wie sich die Handlungsfäden mit jedem Klick in ihrem Kopf weiter verhedderten.

Die TV-Stimmen gerieten in den Hintergrund. Ihre Gedanken schweiften ab zum Miniatur-Hirten im Türchen-Kalender. „Wie keck der mich angesehen hat“, sagte sie, stand auf und registrierte verblüfft, dass sie den Kühlschrank untersuchte. „Was hätte ich denn anzubieten, wenn jemand käme?“

„Nichts!“, stellte sie nüchtern fest. Sie schaute auf das Papierpäckchen mit dem winzigen Lammschnitzel und kicherte grimmig: „Nichts, bis auf meinen Weihnachtsbraten.“ Sie hob kurz die Schultern und sagte: „Für wen hätte ich einkaufen sollen!“

Sie lauschte dem Satz nach. Für wen…

Wen hatte der Hirte gemeint?

Erwarte Ihn zu später Stunde. Ankunft vor Mitternacht.

Der Hirte hatte den Herrn gemeint. Das war klar. „Eine hübsche Ansage“, dachte sie und sagte heiter: „So weit ist es mit mir gekommen. Jetzt spreche ich schon mit dem Adventskalender.“ Sie ulkte: „Morgen könnte ich meiner Teekanne endlich das Du anbieten!“

Und wenn Er doch käme?

Sie lehnte sich zurück. „Dann muss ich mir um die Bewirtung keine Sorgen machen“, entschied sie trocken. „Lammschnitzel wird er nicht essen. Im Himmel gibt’s keine Schafe, also auch keine Schlachter und keine Schnitzel – Schluss der Debatte!“

Sie schaute sich im Zimmer um. Wie es darin aussah! Seit Wochen hatte sie nicht geputzt! Sie kicherte. „Ich könnte den Dreck unter das Sofa kehren. Aber Er weiß alles; dann weiß Er auch, wo der Dreck liegt. Eine schöne Bescherung.“

Sie lehnte zwei bestickte Sitzkissen hochkant gegen den Sofarücken, hieb mit der Handkante einen Keil in die Mitte und erzeugte zweimal zwei Öhrchen. Sie grinste zufrieden. „Den Schlag hab ich noch drauf. So viel Ordnung muss sein.“ Sie setzte sich zwischen die Kissen.

Was besprach man wohl mit dem Höchsten? „Von Theologie hab ich keine Ahnung“, sagte sie. Aber diese Wissenschaft würde ihn gewiss langweilen. „Die hat er doch selbst drauf!“

Ob Er eine Beichte erwartete? Sie durcheilte in Gedanken die letzten Jahre. Wann hatte sie zuletzt gebeichtet? Sie konnte sich nicht erinnern. Das würde Er nicht gerne hören.

Sie besann sich auf ihre Sünden und dachte als erstes an ihren Lehrerkollegen Erwin. Sie waren seit vielen Jahren pensioniert. Einmal hatte sie ihm übel nachgeredet und sich nie bei ihm entschuldigt. Dann war da noch das gebrochene Wort, der abfällige Blick, die feige Lüge. Und der klitzekleine Diebstahl. „Wie geschickt ich das angestellt habe, damals“, sagte sie verschmitzt und bekam unverzüglich rote Ohren. So ging das nicht. So wenig schuldbewusst konnte sie dem Höchsten nicht unter die Augen treten.

Unter die Augen? Würde er denn in Menschengestalt kommen? Passen würde das schon. Irgendwie. An Heiligabend.

Schließlich war auch sie ein Mensch, eine Alte, nicht arm und nicht reich, zu Fuß nur noch mühsam unterwegs und ziemlich einsam, an schlechten Tagen nicht lebensmüde und an guten Tagen überwiegend heiter, etwas kindlich geworden und bisweilen verschroben.

Sie längte die Liste mit Halbsünden. Das Wort kannte nur sie. „Halbsünden sind nicht schlimm, aber auch nicht ganz unschlimm“, erklärte sie laut und langsam für den Fall, dass Ihm diese Einteilung bisher noch nicht untergekommen wäre.

Sie kam aus dem Aufzählen kaum heraus. Unbemerkt mischten sich weitere Sünden ins Werk, Sünden, die ihr angetan worden waren. Immer milder schaute sie auf sich und auf andere. „Wie alles verwoben ist und sich bedingt!“, sagte sie und staunte.

Heilige Nacht auf einem Gemälde in der Geburtskirche von Betlehem.

Längst war es stockfinster geworden. Ihr fiel partout nichts mehr ein – bis auf eine Frage.

„Was soll Er jetzt mit meiner Liste? Er kennt ohnehin alle Sünden. Jede einzelne.“ Sie seufzte: „Gott sei’s geklagt, aber Er ist Gottallwissend.“

Also, entschied sie: „Heute braucht Er meine Beichte nicht.“ Und mit einem Mal fühlte sie sich federleicht.

An diesem Heiligabend hatte sie nichts zu tun. Sie musste nicht kochen, nicht putzen und nicht beichten. Sie musste nur da sein.

Ein alter Psalmvers fiel ihr ein. Der passte. „Werde ruhig vor dem Herrn und warte gelassen auf Sein Tun.“

Auf Sein Tun, wiederholte sie. Wenn er schon mal da war, konnte sie ihn um etwas bitten. Zuerst mal wollte sie für andere bitten. Das gehörte sich so. Sie begann bei ihrer Nachbarin, die im Krankenhaus lag. Dann kam die ferne Freundin, der Straßenhund, der Bäcker, der Bettler (in dieser Reihenfolge), dann ganz viel anderes, dann der Weltfrieden und zuletzt ihr Bruder.

Sie lagen seit Jahren im Streit. Sie staunte, als sie ihre Bitte aussprach: „Ich wünsche ihm eine liebevolle Schwester.“ Sie sagte: „Ups, liebevoll! Da muss ich wohl selbst ran.“

Immer tiefer gingen ihre Gedanken, immer freundlicher wurden sie. Am Ende hatte sie das ganze Universum mit ihren Bitten umsorgt, und es ging auf Mitternacht zu.

Erschöpft von der Auflistung für den Höchsten hielt sie inne und lehnte sich tiefer in die Kissen.

Plötzlich setzte sie sich auf. Hatte Jesus nicht gesagt: „Euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet.“ Ja, das hatte Er.

Kein Zweifel: Der Höchste brauchte an Heiligabend auch diese zweite Liste nicht.

Hirte in der Wiesmoorer Krippe.

Erst ärgerte sie sich ein bisschen. Musste Er denn immer wie der Igel vor dem Hasen schon da sein? Sie kicherte. Sie hatte das Rennen nicht gemacht. Aber ihr war unterwegs vom innigen Bitten ganz warm geworden. So weich und liebevoll hatte sie lange nicht an andere gedacht.

Sie ergänzte ihre Aufzählung: „Heute brauche ich nichts zu tun – nicht kochen, nicht putzen, nicht beichten und nicht bitten.“

Sie war erfüllt von Dankbarkeit und Ruhe. Und sie hatte alles Wollen und Wünschen, alles Grübeln und Rechten, allen Groll über Vergangenes und alle Sorge vor der Zukunft fahren lassen.

Sie breitete langsam die Arme aus; und langsam sanken sie zurück auf die beiden Kissen und ebneten die Öhrchen ein. Ihr Gesicht war hell, und sie sprach laut und feierlich: „Ich fühle mich zum ersten Mal seit undenklicher Zeit ganz entrümpelt und leer von Last; Er ist in allem bei mir und macht das Schwere leicht und das Verknotete frei. Er ist mein Gott-ich-bin-da“.

Aus Gewohnheit faltete sie die Hände. Ihr Herz hatte sie weit geöffnet, und wenn es geöffnet bliebe, würde sie alles bewältigen, was kam; Er würde bei ihr sein.

Sicher war Er längst bei ihr gewesen. „Wie viele Aufgaben hat Er mir schon quer über den Weg gelegt, damit ich endlich hinsehe“, dachte sie, „doch ich bin drüber weggestolpert, weil mein Hirn schneller unterwegs war als mein Herz‘.“

Wie viele Aufgaben mochte sie in ihrem Leben überrannt haben. Sie beruhigte sich: „Man ist nie zu alt, um die Herzfensterklappen aufzustellen. Ab jetzt hab ich durchgehend geöffnet. Kein Dienstschluss!“

Sie machte sich keine Gedanken darüber, was eine alte Frau wohl noch zu tun hätte. Sie würde es erfahren. So rutschte sie tiefer in die Kissen und lag lange Zeit einfach da. Ihr Kopf war noch immer frei und leer, ihr Herz hellwach und randvoll mit Frieden.

Ihr war, als stünde sie vor dem Herrn, bloß wie sie war. Sie fühlte sich klein und groß. Sie war ein Kind Gottes, mit ihm verbunden und Er verbunden mit ihr.

Mit einem Mal glaubte sie: Er hatte sie besucht. Er war da gewesen. Die ganze Zeit schon. Sie hatte mit Ihm gesprochen. Er war in dieser Nacht zur Welt gekommen. Ein bisschen benommen flüsterte sie: „Heute Nacht ist Er auch in mir zur Welt gekommen.“ Und sie staunte über die Größe des Geschenks.

Und jetzt, da sie durch das Geschenk klein und groß und bloß und entrümpelt war, fiel ihr Blick auf den Adventskalender. Sie hatte das Doppel-Türchen nicht geöffnet. Sie brauchte das Krippenbild in dieser Nacht nicht mehr. Sie hatte viel mehr gesehen.

Den Miniatur-Hirten konnte sie im Schimmer einer Straßenlaterne erkennen. Sie hörte ihn wispern. „Jetzt ruhe dich aus. Morgen müssen wir zu unseren Schafen aufs Feld.“

„Gut“, sagte sie und schlief schon halb, „ich komme mit; ich hüte meinen Bruder.“