Gassenhauer: Was für ein Theater!

Die Auricher „Familie Gassenhauer“ bereitet ihre dritte sozio-kulturelle Aufführung vor. Was für ein Theater! Kinder und Jugendliche bringen schauspielernd eine Märchenoper mit Chor, Orchester und Tanz auf die Bühne.

Bereits 2015 haben die jungen Akteure mit Unterstützungsbedarf oft nach körperlicher und psychischer Gewalterfahrung in der Auricher Stadthalle 1500 Zuschauer begeistert. Das möchten sie am Freitag, 17., und Samstag, 18. Februar, erneut schaffen.

Eine Spielszene in der Märchenoper „Das Goldene Herz“: Ein kleiner Junge wird zwischen größeren Jungen hin und her gestoßen. Er bettelt und will bleiben. Doch er soll verschwinden. Jetzt und sofort. Sonst tun sie ihm was. Das Kind flieht zu seinem Vater. Der tröstet den Jungen: „Für alle Menschen ist Platz. Und wir haben das Licht im Herzen. Darauf kommt es an.“

Theaterpädagoge und Regisseur Claus Gosmann ruft den beiden zu: „Lächelt euch an!“ Vater und Sohn grinsen ein bisschen. Sie brauchen noch ein paar Anläufe, bis ihr Lächeln von Herzen kommt. Ein Lächeln von Herzen – eines der zahlreichen kleinen und großen Geschenke, die sich während der Proben ereignen.

Die Familie Gassenhauer übt für die nächste Aufführung im Februar 2017 in der Auricher Stadthalle. Bis dahin werden sich auf, vor und hinter der Bühne weit über hundert Menschen für das sozio-kulturelle Projekt engagiert haben.

Mitinitiatorin Isburga Dietrich bespricht mit Aktiven die Ausstattung zur Märchenoper.

Lagebesprechung während einer Probe, „am Boden“ Regisseur Claus Gosmann (rotes Shirt) und links neben ihm Mitinitiatorin Dr. Elke Warmuth sowie im Hintergrund – und dennoch mit starkem Einsatz – im blau-weiß karierten Hemd Klaus Schütze.

Die Gassenhauer proben eine Marktszene mit Marktschreiern – und mittendrin samt Rolli Eike Schär, der das Publikum schon 2015 begeisterte.

Regisseur Claus Gosmann und im Hintergrund Dieter Ernsing – immer mit beruhigender Wirkung auf die jungen Akteure.

Ab sofort können sich Gassenhauer-Fans und weitere Interessenten in den bekannten Auricher Vorverkaufsstellen wie Heimatblatt und Kulturbüro Eintrittskarten für 10 Euro (Erwachsene) und 5 Euro (Kinder) sichern, zum Beispiel als Weihnachtsgeschenk mit Mehrfachnutzen.

Ein Geschenk wäre es auch für die jugendlichen Gassenhauer: Das öffentliche Erfolgserlebnis – wie ein echtes Ensemble auf einer Bühne vor echtem Publikum zu spielen – motiviert sie ungemein. Die Erfahrung begleitet sie ihr Leben lang.

Schon vor zwei Jahren war Claus Gosmann der Profi-Regisseur. Wieder geht es um das, was die schauspielernden Kinder und Jugendlichen mit emotionalem und sozialem Unterstützungsbedarf selbst erlebt haben: Ausgrenzung, physische und psychische Gewalt –  und aktuell bei mitspielenden Jugendlichen aus fremden Ländern Traumata durch Krieg und Flucht. Vermittelt werden sie zum  Teil über das Leinerstift, das viele unbegleitete Jugendliche in Obhut genommen hat.

Auf der Bühne erwerben die jungen Gassenhauer Selbstwertgefühl und Schlüsselkompetenzen wie Ausdauer und Zielstrebigkeit, Eigenverantwortung und Engagement, Offenheit und Flexibilität.

Ihre Vorurteile schmelzen dahin. Die Heimatsuchenden üben Kultur und Sprache ein und finden Weggefährten. Inklusion gelingt fast nebenbei.

Wie es sich für eine Märchenaufführung gehört, wartet am Ende ein versöhnlicher Ausklang.

Sehr friedlich und flexibel geht es schon während der Proben zu. Es gibt weit mehr Kinder und Jugendliche, die mitspielen möchten, als Rollen vorhanden sind.

Claus Gosmann hat ständig neue Ideen, die er wie bunte Fäden in das Märchen wirkt. Der Handlungsstrang wird dicker und dichter. „An dieser Stelle können wir Florian einbauen“, ruft er zwischendurch und etwas später: „Natalie hat noch keine Rolle. Die braucht auch was.“

Zum Stück gehört eine üppige Kostümierung – unlängst probten die Gassenhauer zum ersten Mal prachtvoll ausgestattet. Was für ein Theater.

Da durfte auch das richtige Makeup nicht fehlen. Die jungen Leute halfen sich gegenseitig und bekamen zudem professionelle Unterstützung.

Schon avanciert Natalie für eine Marktszene mit ganz neuer Regie zu einer führenden Persönlichkeit. Gosmann zeigt ihr, wie sie schreiten und sprechen und am Ende das ganze Publikum mit einem sparsamen Fingerzeig von den Plätzen holen soll. Natalie schaut auf ihre Hände, als könnten sie plötzlich zaubern. Sie macht ihre Sache prima. Ihre Wangen glühen.

Dieselbe Marktszene: zwei heimatsuchende Jugendliche, die kaum Deutsch sprechen, sollen lauthals Ware anpreisen. „Frische  Fische!“, ruft der eine. „Frische Kräuter!“, soll der andere rufen. Er bringt die beiden Wörter nicht fehlerfrei heraus und sagt immer wieder mit Nachdruck: „Frische Freutr.“

Es klingt ein bisschen wie „Frische Freude.“ Alles lacht, er selbst lacht am lautesten.

Keine Spur von Ausgrenzung oder Anmache, weil er die deutschen Wörter nicht herausbekommt. Bald rufen alle zusammen: „Frische Kräuter!“ Sie üben im Chor.

In dem Stück zeigen die Darstellerinnen und Darsteller, was in ihnen steckt.

Sie mimen erstklassig, was ihre Rollen hergeben.

Warten auf die Proben.

Und gleich geht’s auf die Bühne.

Claus Gosmann hat sich an der Seite der Projektleiterinnen Isburga Dietrich und Dr. Elke Warmuth jedes Kind und jeden Jugendlichen angeschaut, hat seiner Persönlichkeit und seinen Talenten nachgespürt und ihm eine Rolle auf den Leib geschrieben, und sei sie noch so klein, Hauptsache sie mündet in einen Auftritt.

Eine tolle Zumutung: Gosmann, Dietrich und Warmuth trauen jedem Kind und jedem Jugendlichen Talente zu, die die Gruppe und das Theater bereichern.

Dietrich und Warmuth, beide Mitglieder von St. Ludgerus Aurich, sind die Initiatorinnen des Projekts. Sie haben schon immer gern Theater gespielt und in ihrer Kirchengemeinde mit Weggefährten wie Johannes Funke „unauffällige“ Jugendliche auf die Bühne gelotst.

Um das Gassenhauer-Projekt stemmen zu können, agiert die Initiative inzwischen selbstständig, aber immer mitgetragen von der Gemeinde durch verschiedenste Tätigkeiten.

Mehrere Ludgerus-Mitglieder begleiten Jugendliche mit besonders großem Unterstützungsbedarf, fahren Akteure zu den Proben, schneidern Kostüme oder schmieren zu den Proben Brötchen gegen den Hunger.

Neu ist die breit angelegte Vernetzung mit anderen Institutionen. Denn eine richtige Oper braucht neben dem Schauspiel der Gassenhauer auch Gesang, Tanz, Orchester und Bühnenbild. „Das goldene Herz“ ist eine richtige Oper – geschrieben von Georg Dreißig und vertont von Volker Felgenhauer, einem zeitgenössischen freien Komponisten  aus Nürnberg.

Die Gassenhauer freuen sich über die Mitarbeit der Kreismusikschule Aurich-Norden. Sie stellt unter der Leitung von Rahel Bach und dem Dirigat von Henrike Reiners-Wohlberg  die Basis für das Jugendorchester.  Mancher junge Gassenhauer hat noch nie eine Geige gehört.

„Das ist nicht gerade die Musik, die die Kinder und Jugendlichen sonst hören“, sagt Elke Warmuth, „aber ich bin sicher, dass sie die Musik lieben werden.“

Der Jugendchor der evangelischen Lamberti-Gemeinde trägt in schöner Ökumene mit seinen Stimmen unter Leitung von Helen Kroeker die Gesangpartien. Die motivierten Chormitglieder proben seit längerem. Einige übernehmen zusätzlich eine schauspielerische Rolle: ein buntes Miteinander.

Für eine besondere Note sorgt wie bei früheren Aufführungen Jann Janssen mit eigenen Musik- und Textkompositionen. Die Kinder lieben seine Songs.

Ein richtiges Orchester, nämlich das Jugendorchester der Kreismusikschule, ist mit von der Partie.

Bei einer Probe waren unlängst Mitglieder des Fotoforums Aurich dabei (hier gemischt mit Pressefotografen). Sie unterstützen die Gassenhauer zur Aufführung mit einer Ausstellung. Darin werden sich alle Aktiven im Bild wiederfinden.

Theater bei den Gassenhauern ist immer auch ein Stück Bildung über einen völlig anderen Zugang als Schule. Mancher Lehrer hat bei vergangenen Aufführungen schon sprachlos vor eigenen Schülern gestanden, die auf der Gassenhauer-Bühne agierten, und sie mit ihrem Spiel und ihrem Selbstbewusstsein nicht wiedererkannt.

Weitere Möglichkeiten, Talente zu entfalten, bietet die Kunstschule miraculum der Stadt Aurich unter Leitung von Stefanie Leferink. Isburga Dietrich und Elke Warmuth sind ganz gespannt auf das Bühnenbild von miraculum, das unter Regie von Katja Braasch entsteht. Eingebunden sind die jungen Gassenhauer, die, fachkundig angeleitet, ihr handwerkliches Geschick zeigen können.

Isburga Dietrich im Gespräch mit Helen Kroeker und Henrike Reiners-Wohlberg.

Mit den Gassenhauern, den Aktiven von Kreismusikschule, Kunstschule und Lamberti-Chor kommen junge Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungen, Fähigkeiten und Begabungen in ein gemeinsames Projekt und lernen einander schätzen. Theater, Orchestermusik, Gesang, Tanz und Bühnengestaltung eröffnen ihnen neue Welten.

So entsteht von Woche zu Woche bis Februar 2017 ein immer dichteres und stimmigeres Gesamtkunstwerk. Neben aller guten Sozialarbeit, Pädagogik, professionellen Anleitung in Schauspiel, Gesang, Tanz und Musik erleben die jungen Gassenhauer vor allem das, was der Name der Theaterinitiative ihnen zusagt: Familie.

Siehe auch: Straßen-Demonstration der Gassenhauer 2015

Isburga Dietrich und Elke Warmuth in einer schöpferischen Pause.