Litauen 2019: eine große Reise mit großen Erlebnissen
Jede Fahrt nach Litauen vertieft die Begegnung mit den Freunden vor Ort. Rytis, der neue Pfarrer in Alytus, brachte es auf den Punkt: Es ist ein Geben und Nehmen. Neuauwiewitt hat bei der jüngsten Reise viel nehmen dürfen.
Vor allem schenkten uns die Gastgeber in den Gemeinden von Alytus und Kaunas ihre Gastfreundschaft. Natürlich gehörten Mahlzeiten mit litauischen Spezialitäten dazu. Sie schmeckten wunderbar (hinterließen aber auch ein kleines, schales Gefühl, denn wir bringen Lebensmittel für bedürftige Menschen über 1500 Kilometer Wegstrecke dorthin und bekommen dann selbst reichlich aufgetischt).
Etwas sehr besonderes war die Tischgemeinschaft. Wir haben gebetet, geredet und gelacht, uns einander im Blick gehabt und Schüsseln zugereicht, gerade so wie in einer großen Familie.
Und noch etwas bekamen wir geschenkt: Fast jede Mahlzeit war belebt mit einem kleinen „Kulturprogramm“. Die Litauer, so war oft der Eindruck, singen sich durchs Leben. Ihren melodiösen und manchmal melancholischen Liedern verdanken sie nicht zuletzt ihre Freiheit und nationale Unabhängigkeit. Während der Perestroika von 1988 bis 1991 hatten sich immer wieder Hunderttausende von Menschen in Stadien und auf Straßen versammelt und ihre althergebrachten Lieder gesungen, obwohl sie unter Sowjet-Herrschaft streng verboten waren. Die Litauer hörten nicht auf, ihre Forderungen zu stellen, zu singen und damit ihr ganz eigenes Kulturgut wirken zu lassen – bis sie gewaltlos durch ihre „Singende Revolution“ frei waren.
Und wo gesungen wird, wird getanzt: Auch das bekamen wir geschenkt. Tanzen ist wie Speisen und Musik eine eigenständige Sprache, für die es keine litauischen oder deutschen Wörter braucht.
Onno, einer unserer vier Laster-Kapitäne, hatte wie in den Vorjahren sein Akkordeon mitgebracht. Er hörte die fremden Melodien, spielte sich rasch ein und begleitete den Gesang. Gern reichte er sein Instrument zwischendurch an Sr. Emanuela weiter. Markus stimmte mit seiner Gitarre ein. Das waren wunderbare Abende.
Es gab weitere Geschenke. Wir sahen, was unsere Freunde in Alytus und Kaunas mit begrenzten Mitteln an Hilfe für Bedürftige leisten. Und wir erlebten, wie unübersehbar groß der Kreis der Bedürftigen ist – zum Beispiel in der Suppenküche der Malteser in Alytus, in den Krankenzimmern im Hospital in Kaunas oder in den umliegenden Dörfern. Da wuchs unsere Dankbarkeit.
Sven, einer „unserer“ sieben jugendlichen Mitfahrer, erzählte nach der Heimkehr im Sonntagsgottesdienst: „Wir haben einen kleinen Ort namens Vaidotei besucht. Dort leben Menschen in kleinen Holzhäusern, die fast zusammenbrechen. Die Straße war aus Sand und super staubig. Wasser und Strom hatten die Familien in dem Ort nicht unbedingt in ihrem Haus. Es war für mich unfassbar und schockierend zu sehen, unter welchen Verhältnisse teilweise die Menschen dort leben müssen.“
Unfassbar und schockierend. Jannik erzählte: „In Alytus haben wir zwei Familien besucht. Sie leben und schlafen in einem Raum. Es gibt ein Ausziehsofa, das über Tag zusammenklappt wird, um darauf zu sitzen. Eine Toilette hatten sie nicht und auch keine Küche. Auf dem Flur gab es für eine Etage eine Küche und Toiletten. Insgesamt war es schrecklich zu sehen, aber wir mussten es sehen, um zu verstehen, wie die Menschen dort leben und was sie brauchen. … Ich habe mich zwischendurch echt schlecht gefühlt, wenn ich daran denke, worüber ich unzufrieden bzw. unglücklich bin und in welchem Luxus wir eigentlich leben.“
Bei diesem Litauenbesuch haben sich einmal mehr Perspektiven verschoben. Es war schrecklich, aber wir mussten es sehen, um zu verstehen.
Elia berichtete über den Besuch im Krankenhaus von Kaunas und von dem Geburtsbett, das wir mitgebracht hatten. „Ich konnte es nicht glauben, als die Chefin vom Krankenhaus meinte, dass sie das einzige Krankenhaus sind, das so ein Geburtsbett hat. In ganz Litauen gibt es kein vergleichbares Bett. Ich bin da jetzt kein Profi, aber man hat mir gesagt, dass solche Betten bei uns zum Standard gehören. Generell haben wir dort viel abgeladen, was wir hier in Deutschland nicht mehr benutzen und was dort wirklich gebraucht wird. Sie waren so dankbar darüber. Einige Sachen wurden sofort wieder eingesetzt. Im Krankenhaus war ich sprachlos, als ich gesehen habe, dass die Menschen nicht mal alle ein Nachtischschränkchen hatten und in Betten lagen, die man nicht schieben konnte.“
Weiter sagte Elia: „Die Küche haben wir auch gesehen. In Deutschland dürfte da bestimmt nicht mehr gekocht werden. In der Küche waren es über 45 Grad und die Leute haben dort gearbeitet.“
Josua sprach über die jubilierenden Malteser in Alytus. „Sie haben vor zehn Jahren angefangen und wussten am Anfang nicht, was passiert. Sie haben durchgehalten, obwohl viele Leute gesagt haben, dass es nicht klappt. Heute sind sie total anerkannt und helfen besonders alten Menschen mit Essen, Kleidung, Hygieneartikeln und vielem mehr. Sie haben auch Jugendliche mit eingebunden, unterstützen Kinder und machen immer mehr mit ihrer Arbeit möglich. … Die Malteser haben mich beindruckt, weil sie alles überlegt machen.“
Nathalia brachte ihre Eindrücke so auf den Punkt: „Wir nehmen von dem Hilfstransport viel mit, vor allem haben wir neu gelernt, was Dankbarkeit heißt und wie gastfreundlich die Menschen sind. Wir waren in den Gemeinden eingeladen, und sie waren froh und stolz, dass wir da waren. Wir haben zusammen gegessen, gelacht und gesungen. Das ging irgendwie, trotz aller Sprachschwierigkeiten.
Wir wissen, dass tolle Menschen gespendet haben, an uns gedacht haben, und viele Leute haben mit angepackt. Als Jugendliche waren wir mittendrin, und das hat uns gut gefallen. Allen DANKE dafür! Was heißt das für die Zukunft? Wir Jugendlichen sagen, dass wir weitermachen müssen und uns solidarisch mit den Menschen in Litauen zeigen. Es kann eigentlich nicht sein, dass es in der EU so viel extreme Armut gibt wie in Litauen. Wir wollen auf jeden Fall wieder hin und weiter mitarbeiten.“
Wir wollen auf jeden Fall wieder hin und weiter mitarbeiten. Das haben uns die Jugendlichen mit auf den Weg gegeben. Sie waren ein „mitreisender Schatz“. Denn auch sie haben neue Perspektiven aufgemacht, haben die Reisegesellschaft der Erwachsenen mit Frische und ein bisschen Frechheit bereichert und manches Althergebrachte und Selbstverständliche angetastet.
Die Sieben sind zwischendurch ihre eigenen Wege gegangen, zum Beispiel wenn wir in Alytus unterwegs waren und Strecken, die die „Alten“ in den Bullis fuhren, zu Fuß erkundeten. Während die Erwachsenen sich abends nach Schweiß treibender Arbeit auf der Hotelterrasse mit Getränken kühlten, hüpften die Jugendlichen in einen nahen See und spazierten im plötzlich einsetzenden Starkregen klitschnass und in aller Ruhe zurück zum Hotel.
Da saßen die Erwachsenen gemütlich beieinander. Es blieb nicht nur gemütlich. Die Jugendlichen hatten Fragen. Wie ernst ist uns die Forderung nach der Bewahrung der Schöpfung? Wie halten wir es mit Umweltschutz und Klimaschutz? Da lehrten einige Jugendliche die versammelte Runde „älterer Herrschaften“, wie man sachlich und stark argumentiert und sich nicht von Totschlagphrasen aus dem Konzept bringen lässt.
Die Jugendlichen, ihre Späße, ihr Übermut, ihre Ernsthaftigkeit, ihre unverstellte Betroffenheit und ihre Entschiedenheit gaben der Reise eine neue Qualität.
In den nächsten Wochen wird es in Gesprächen noch reichlich Stoff für Nachlesen geben. So haben sich, wie eine Schnellerkundung in einem Iki-Supermarkt (REWE-Gruppe) vor Ort ergab, inzwischen die deutschen und litauischen Lebensmittelpreise angeglichen. Denn die litauischen Preise fallen – auch durch sanften, politischen Druck. So werden die Preise der wichtigsten Grundnahrungsmittel wie Brot, Getreide- und Milchprodukte, Fleisch, Eier, Öle, andere Fette und Gemüse regelmäßig veröffentlicht und damit gläsern. Der Wettbewerbsdruck auf die großen Ketten wie Maxima, Palink (Iki), Norfos Mažmena, Rimi und Lidl steigt, die überteuerten Preise sinken.
Der Litauenausschuss wird daraus für künftige Fahrten seine Schlüsse ziehen. Klar ist auf jeden Fall, dass die Gemeinden, die Schwestern und die Malteser dringend Lebensmittel für Bedürftige brauchen.
Drogerieartikel, darunter Hygieneartikel, sind oft noch immer ein Vielfaches teurer als in Deutschland.
Ebenfalls im Litauenauschuss gesammelt werden die vielfältigen Eindrücke (auch zum Wiedersehen mit Darius) und erste Wünsche aus den Gemeinden für den nächsten Transport. Jetzt freuen sich die Unseren erst einmal auf den Gegenbesuch im Juli. Pfarrer Johannes Ehrenbrink hat die Litauer am Abschlussabend offiziell eingeladen. Sie werden kommen – und schön: Zum ersten Mal wird Rytis, der neue Pfarrer in Alytus, mit dabei sein.
Auch Dechant Arunas kommt mit. Schon jetzt wünschen wir unseren Gästen eine gute Anreise. Unsere glückliche Rückfahrt hatte Arunas am Tag der Abfahrt vor unserem Hotel in Alytus eingeleitet. Wir standen in großer Runde mit den litauischen Freunden zusammen. Onute umarmte jede und jeden. In die Umarmungen hinein flüsterte sie: „Wir lieben euch.“ Arunas spendete uns bewegt den Reisesegen. Wir nahmen ihn bewegt entgegen.
Nachfolgend noch einige Impressionen und Informationen von den Reisetagen – eine der wichtigsten vorweg. Zu fast allen Gelegenheiten begleitete uns sachkundig, empathisch und ausgestattet mit Übersetzungskunst Birute. Sie überträgt Sätze eher selten Wort für Wort. Sie erzählt die Geschichte hinter den Wörtern. Eigentlich hatte sie ihre Arbeit am Abschiedsabend schon getan, als Alfred sie noch einmal in die Mitte bat, um ein letztes Mal zu übersetzen. Birute war etwas erstaunt, trat aber dienstbereit zum Malteser-Chef. Der lächelte keck. Und dann lächelte auch Birute, denn schnell war klar, dass Alfred nicht wirklich etwas zu übertragen hatte. Birute verstand die Dankesrede an ihre eigene Adresse auf Anhieb, und Jolanta rief: „Jetzt übersetze ich!“ So erfuhren auch die litauischen Freunde, was wir an Birute haben.
Klar, sie sieht sich als Übersetzerin, mehr noch jedoch als Vermittlerin: Sie möchte, dass beide Seiten nicht nur Worte hören, sondern sich wirklich verstehen. „Wenn das nicht gelingt, fühle ich mich schlecht“, sagte sie am Abschiedsabend. Am Mittag hatte sie bei einem Vortrag in Birštonas in einem Museum zu Ehren des seligen Teofilius Matulionis übersetzt. Der Vortrag bestand aus eher kalten und nackten Daten und ließ uns wenig über das Wesen und Wirken dieses großen Seligen wissen. Birute: „Das hätte ich euch gern vermittelt.“
Am Abend freute sich Birute sehr über die Dankesrede von Alfred. Und sie dankte ihrerseits. „Ich freue mich jedes Jahr auf den Sommer, wenn ihr kommt. Und wenn ihr weg seid, beginne ich, mich auf den nächsten Sommer zu freuen.“ Sie erlebe mit den ostfriesischen Gästen jedes Mal eine besondere Freundschaft.
Nach 3380 Kilometern Gesamtstrecke war die große Fahrt zu Ende. Unterwegs dankten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einander ganz unspektakulär für die gute Zeit. Ein Lob ging besonders an Alfred, der den Hut aufgehabt hatte, das Lob aber gleich an Hans, Horst und Patrick weiterschob, ohne die sein Hut nicht wirklich etwas bewegt hätte. Dank ging an die Jugendlichen, an die Mutter für hungrige Münder Doreen, an die Lasterfahrer, die überwiegend nicht zu Neuauwiewitt gehören und trotzdem treu, verlässlich und besonnen Fahrt und Plackerei auf sich nehmen, sowie an Ludwig. Zum Schluss versammelten sich alle für ein letztes Gemeinschaftsfoto. Was es damit auf sich hat, offenbarte sich am 18. Juni.
Text und Fotos: Delia Evers
Litauen-Tagebuch
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