Weinmann, Marlies | Tischlein-deck-dich in Aurich

Am 18. Juni 2019 ist Marlies Weinmann 70 Jahre alt geworden – viele davon hat sie mit und in der St.-Ludgerus-Gemeinde verbracht und die Mitglieder nicht nur mit leckeren Brötchen und Kräutergetränken erfreut…

Aufgewachsen ist Marlies Schmitz auf dem elterlichen Hof unmittelbar an der niederländischen Grenze im Örtchen Lindloh, das nahe Haren zur Dorfregion Rütenbrock zählt. An die eine Seite des Hofs grenzte die einklassige Volksschule, an die andere Seite eine Kapelle. Weite Wege musste Marlies nicht zurücklegen; dabei sehnte sie sich früh danach, über das Dorf hinauszuschauen.

Maria und Bernhard Schmitz an ihrem Hochzeitstag.

Die Eltern waren schon älter, als 1947 Leni, 1948 Adelheid und 1949 Marlies auf die Welt kamen. „In die Kriegswirren hinein setze ich kein Kind“, hatte Bernhard Schmitz immer gesagt und mit seiner Maria zügig „nachgearbeitet“, als das Schlimmste vorüber war. Mit etwas Abstand kam 1956 Bruder Bernhard auf die Welt.

Der Hof hatte schon Generationen zuvor der Familie gehört, die Ende des 18. Jahrhunderts aus der Kölner Gegend ins Emsland ausgewiesen worden war, im Hochmoor mit anderen Familien eine Kolonie aufbaute und das Land urbar machte. Nach dem Zweiten Weltkrieg und einer Teilenteignung blieben den Schmitz 18 Hektar Land. Sie hielten fünf Kühe, ein paar Schweine, einen Ackergaul und Hühner.

Über Jahre wurde Marlies, drittes Mädchen in Folge, einen bitteren Verdacht nicht los. Die Eltern hatten sich einen Jungen gewünscht. „Das habe ich gespürt.“ Marlies fragte sich: „Warum bin ich kein Junge?“ Die Geschwister spielten miteinander, zankten, vertrugen sich, spielten weiter, zankten wieder und arbeiteten ausdauernd auf dem Hof, so gut sie konnten.

Die drei Schwestern, Marlies in der Mitte.

Wenn geputzt werden musste, drückte sich Marlies. „Am liebsten zog ich mit Papa nach draußen auf die Felder. Er zeigte mir alles. Er sprach auch über Krankheiten und sagte immer, dass gegen jedes Zipperlein ein Kraut gewachsen ist. Papa wusste, welches Kraut.“

Vater Bernhard hat sie als besonderen Menschen in Erinnerung: Die Dorfbewohner riefen ihn, wenn jemand sich nicht gut fühlte; seine Gegenwart und seine Hände, die er auflegte, ließen manches Gebrechen verschwinden. „In meiner ganzen Kindheit habe ich nie einen Arzt gesehen“, erzählt Marlies. „Papa heilte alles.“

Marlies mit Puppe samt Porzellankopf und einem wunderschönen Kleid. Sie gehörte den drei Schwestern gemeinsam.

Der Vater zeigte Marlies die Lusemelle, meterhohe Ackermelde, die ihre Wurzeln tief in den Boden trieb und auf langem Stängel ihr Kraut mit knäuelartigen Blüten hochreckte. Der Vater riss die Pflanze samt Wurzelballen aus. Marlies packte sie am Kopf und pfefferte sie, als wär’s ein Schleuderball, mit dem Wurzelstück voran auf einen Haufen – ein gutes „Training“ für die Ballsportarten, die sie später ausübte.

Mutter Maria regelte, was für Haus und Hof zu regeln war. „Und sie hatte ein Händchen dafür, alles schön zu machen.“ Auch die vier Geschwister sahen immer adrett aus. An den Füßen trugen sie allerdings fast das ganze Jahr über Klompen. Im Winter schnitzte der Vater jedem Kind zwei Paar Holzschuhe passend auf die Füße.

Der „kleine“ Bruder am Hühnerstall.

Zur Einschulung sollte Marlies ihre ersten Lederschuhe bekommen. „Doch Mama hatte keine Zeit, sie einzukaufen.“ Der Einschulungstag rückte näher. Marlies hatte noch immer keine Lederschuhe. Da beschloss sie: Mit Klompen gehe ich nicht zur Schule. Sie kündigte an, den ersten Schulgang zu bestreiken.

Die Mutter ließ Marlies auf dem Gepäckträger ihres Rads aufsitzen, und zu zweit ging es zu einem Schuhmacher. Bald besaß Marlies die ersten Slipper ihres Lebens. In Rot. Die Schule konnte kommen. Es war eine Einklassenschule.
„Ich habe mich irgendwie durchgearbeitet“, sagt Marlies. Nach dem Volksschulabschluss wollte sie weg aus Lindloh und endlich über Schule und Kirchlein hinaussehen. „Ich wollte die Welt erleben – und wenn sie nur im nächsten Dorf wäre. Wir kamen ja nirgendwo hin.“ Die Eltern hatten andere Pläne. Mädchen mussten nichts lernen. Die brauchten Kenntnisse in der Hauswirtschaft und einen ordentlichen Mann. Kinder und der Rest ergaben sich von selbst.

Marlies als junge Frau daheim im Obstgarten.

Marlies sollte in einem privaten Haushalt unterkommen. Sie wollte nicht, weinte, wappnete sich mit Mut und machte sich auf den Weg nach Haren. Sie schaffte es, dort für ein Jahr an der Hauswirtschaftsschule unterzukommen. Ausgestattet mit neuen Kenntnissen schritt sie in die Rezeption eines Hotels in Meppen und bat um Arbeit. Sie bekam sie mit einer einzigen Bedingung: Sie musste im Betrieb wohnen, um verfügbar zu sein.

Die junge Marlies.

Sie freute sich. Endlich weg von zu Hause! Und endlich ein eigenes Zimmer! Ihr neuer Chef sprach mit den Eltern: „Marlies wohnt jetzt bei uns“. Sie machte und lernte viel, war in der Küche und im Service und freute sich an ihrer schneeweißen und adrett gestärkten Kellnerinnen-Schürze. Sie bediente freundlich und gut. Gern spendierten die Gäste Trinkgeld.

Marlies in Freude.

Nach einem Jahr wollte Marlies weiter. Sie war noch keine 19 Jahre alt, als sie sich bei CeKa in Meppen um eine Stelle bewarb. Sie bekam sie und bediente fortan in der Abteilung für Strick- und Miederwaren. Sie hatte ein Auge dafür, welche Wäsche ging und welche liegen blieb, und sprach mit ihren Chef darüber. Der freute sich über ihren geschäftstüchtigen Blick und vertraute ihr bald die Abteilung an. „Ich habe aufgeräumt und das Sortiment umgestellt.“ Ladenhüter gab’s nicht mehr.

Marlies bekam die Chance, sich zur Einkäuferin weiterzubilden. Doch dazu kam es nicht. Sie lernte Norbert Weinmann kennen und lieben. Er und seine viel jüngeren Brüder lebten ohne Mutter mit dem Vater zusammen. Marlies ließ sich ganz auf die Familie ein, versorgte den Haushalt und gab den Kindern das Gefühl, ein warmes Nest zu haben.

Damals mordern: eine dicke Brillenfassung.

Norbert wurde als Marktleiter immer wieder versetzt. 1971 kam in Lingen Oliver zur Welt und 1975 in Aurich Nicole. Marlies, ein geselliger Typ, machte Sport, vor allem Handball, und war in den Schulklassen ihrer Kinder Elternvertreterin. Die Weinmanns zogen weiter, immer der Arbeit hinterher: nach Wolfsburg, nach Hesel, nach Cloppenburg, nach Düsseldorf und 1990 zurück nach Aurich.

Hier durchlebte Marlies in mehrfacher Hinsicht eine schwere Zeit. Sie kämpfte sich mit ihren Kindern in die Eigenständigkeit zurück und wurde als Pächterin der Tankstelle an der Kaufhalle ihre eigene Chefin. „Die Tanke war klein, fein und mein. Ich hatte viele nette Kunden und viel Kontakt, fast so wie in einem Tante-Emma-Laden. Da hab ich manches Mal Seelsorge geleistet“ – bis 2015. Da machte sie mit 66 Jahren Schluss.

Zu dieser Zeit war sie längst in der Gemeinde St. Ludgerus aktiv. Wolfgang Holzbach hatte sie bei den Gremienwahlen für die Liste zum Pfarrgemeinderat gewonnen. Marlies dachte: „Mich kennt sowieso keiner, also werde ich nicht gewählt.“ Da lag sie schief.

Marlies sorgte bei einem Termin im Bonihaus noch schnell für Nachschub: Denn die erste Fuhre ihrer lecker belegten Brötchen war bald verputzt.

Sie freute und freut sich daran, es der Gemeinde schön zu machen. Sie ist nicht die Mutter der Kompanie und trägt dennoch Züge solcher Mütter. Wenn im Bonihaus der Frühschoppen vorbereitet wird, steht sie regelmäßig in der Küche. Wenn für Litauen gepackt wird, tischt sie für hungrige Mäuler leckere Brötchen auf – nie lieblos mit Margarine, Wurst oder Käse verkleistert, sondern immer als Augen- und Mundschmaus zubereitet mit Gurken, Tomaten und anderen Leckereien.

Die schöpft sie oft aus ihrem wunderbaren Garten. Hier nehmen allerlei Gemüse Quartier. Sie werden nicht streng gezogen, sondern mit kenntnisreicher Hand bis zu Reife begleitet. Bei Marlies dürfen sich selbst Gurkenranken quer Beet räkeln. Die Obstfrüchte ihres Gartens vereinen sich gern mit edlen Zutaten zu Aufgesetzten, Magenbittern und Likören, die Marlies köstlich zubereitet. Sie werden immer wieder gern genommen, zum Beispiel wenn die Klüngeltüngels sich im Winter zum Grünkohlfassen Richtung Kukelorum auf den Weg machen. Dann hat Marlies in ihrem Rucksack garantiert Belebendes dabei.

Berühmt ist ihr Aufgesetzter aus grünen Walnüssen. Die müssen Anfang Juli geerntet werden (Marlies freut sich, wenn sie auch in diesem Jahr gut 50 Stück geschenkt bekommt).

Marlies ist eine gastfreundliche Frau, zum Beispiel, wenn die Frage auftaucht, wo litauische Gäste einen lauschigen Abend verbringen und übernachten können. Bei Marlies! Sie erinnert sich gern daran, wie sich einmal junge Leute auf Decken in ihrem Garten verteilten und kleine Inseln entstanden, auf denen gelacht und geredet wurde. Die Gäste musizierten auf ihre unnachahmliche, litauische Art, so dass trotz später Stunde in einem Nachbarhaus die Fenster weit aufgingen, um noch den leisesten Ton hineinzulassen.

Marlies 2019 zwischen den Litauenreisenden, die sie gern in ihre Mitte genommen haben.

Marlies ist für alle Herausforderungen zu haben, auch für die, über Monate eine „gestrandete“ junge Frau aus der Gemeinde ins eigene Haus aufzunehmen und durch eine schwierige Zeit zu begleiten. Tage- und nächteweise stand sie ihr für Gespräche zur Seite, lobte, mahnte, lenkte sanft und ermutigte. Sie hielt Rückschläge und Undankbarkeit aus. Sie gab ihr Bestes.

Auch das macht sie ehrenamtlich: Marlies Weinmann leitet Kita-Kinder bei der Gartenarbeit an.

Sie hatte selbst schlimme Situationen durchgestanden und, so hat sie es erlebt, Hilfe vom Himmel erfahren, auch Hilfe, die sie konkret erbeten hatte.

„Du musst bereit sein, Kraft vom Himmel anzunehmen“, sagt sie, „du musst dich für diese Kraft öffnen. Wenn du dich nicht öffnest, kannst du nichts annehmen.“ Sie hat ihre eigene Auffassung von den Wechselbeziehungen zwischen Himmel und Erde und fühlt sich bis heute kraft ihres Glaubens durch ihr Leben hindurchgetragen. „Ohne Glauben wäre mein Leben sicher anders verlaufen.“ Mit ihrem Glauben hat sie ihren Mut und ihre Zuversicht nie verloren.

Eine Schwester ihres Vaters, Tante Adelheid, war schon in jungen Jahren in den Steyler Orden eingetreten und als Sr. Mary Laurentina in die Mission auf die Philippinen gegangen. Von dort schickte sie zu den großen Festen Briefe und Kärtchen, auf denen in handgearbeiteten Medaillons winzige Pakete von wenigen Millimetern Größe befestigt waren. Darin befanden sich geheimnisvolle, religiöse Schätze, die nie ausgepackt wurden. Die Kinder vertrauten darauf, dass sich etwas Besonderes darin befand. Wenn Post von Sr. Mary Laurentina kam, versammelte sich die Familie in der guten Stube, und der Brief wurde andächtig verlesen.

Die Ordensschwester war wie Marlies zwischen Volksschule und Kapelle aufgewachsen. Die Großeltern von Marlies hatten das Grundstück für dieses Kirchlein gestiftet. Es gehörte ganz selbstverständlich zu ihrem Alltag und zu ihren Sonntagen. Später wurde die Kapelle abgerissen und in die Volksschule „verlegt“, die längst ihre Pforten für Schüler geschlossen hatte. Sie gilt als die letzte original erhaltene Einklassen-Schule im Emsland und steht unter Denkmalschutz.

Marlies‘ Schwester Adelheid versieht für die Kapelle den Küsterdienst. Das Kirchlein ist für manche Ausflügler zu einem Lieblingsziel geworden, an dem einmal wöchentlich noch Gottesdienst gefeiert wird.

Acht Jahre lang ließ Marlies sich als Schöffin auf das Leben und die Bedrängnisse anderer Menschen ein und sprach – von Ulrich Kötting für diese Aufgabe gewonnen – gemeinsam mit Richtern und weiteren Schöffen Recht.

Marlies engagiert sich mit vielen anderen auch für den Mobilen Einkaufswagen, hier mit Alfred Dellwisch, Elisabeth Funke und Hans Lüken.

Marlies arbeitet in der Aktion Mobiler Einkaufswagen mit und begleitet beim neuen Angebot von St. Ludgerus ältere Menschen in den „Urlaub ohne Koffer“. Sie behält betagte Nachbarinnen, Kranke und Bedürftige jeder Art im Blick, macht noch immer gern Dinge schön, pflegt ihre Freundschaften und spielt jeden Mittwoch in einem festen Frauenteam Handball. Marlies weiß wie das geht. Sie war lange selbst im Meisterschaftsbetrieb aktiv und hat über Jahre Jugendmannschaften trainiert. Da sind auch ihre Lieblingswörter gefallen.

Wenn sie die Nase voll hat, ruft sie vernehmlich: „Geht’s noch?“
Und wenn sie zufrieden ist, ruft sie ebenso vernehmlich: „Geht doch!“

Text und Farb-Fotos: Delia Evers; weitere Fotos: Privatarchiv Marlies Weinmann

Marlies Weinmann zu ihrem 70. Geburtstag in ihrem Garten.