Das ist kein Märchen
Das ist kein Märchen: Über Monate haben Erwachsene, vor allem aus „St. Ludgerus“, ehrenamtlich und mit hohem Einsatz Kinder und Jugendliche der Theaterfamilie Gassenhauer auf die Bühne begleitet.
Am Mittwoch legten alle gemeinsam eine Punktlandung hin. Bei der Generalprobe für das märchenhafte Musikspiel rund um „Das goldene Herz“ klappte (bis auf ein paar Winzigkeiten) in der Stadthalle alles.
Donnerstagmittag – die erste Schulaufführung war gerade gelaufen – rief Mitinitiatorin Dr. Elke Warmuth erleichtert aus: „Alles läuft wunderbar.“
Wunderbar gelang auf jeden Fall eine Neubesetzung. Ende letzter Woche hatte sich Tim, einer der Hauptdarsteller, den Knöchel gebrochen. Ganz schnell musste Ersatz gefunden werden: Anastasia. Quasi über Nacht lernte sie die wortreiche Rolle der „Versucherin“ und war so gut, dass niemand etwas merkte.
So ging Freitagabend auch die Premiere glanzvoll über die Bühne.
Das Märchen ist schnell erzählt: Eine Prinzessin und ein Waldjunge verlieben sich…
Ein Waldjunge? Richtig, einst hatte ihm der eigene Vater ein Lied ins Herz gesenkt: Genau dort wohne ein Licht, das nur Königssöhne in sich trügen. Das Lied des Vaters wird zum Lebensbegleiter des Jungen. Der Kinderchor der Lambertigemeinde trägt es hell, liebreich und wohlklingend vors Publikum.
Eine Verheißung hatte auch die Prinzessin erhalten. Feen schenkten ihr zur Taufe ein Licht von höchster Kraft, das sie fortan in allen Wechselfällen des Lebens tröstet, inspiriert und zum Gutem bewegt. So reift sie zu einem jungen Mädchen heran.
Doch was ist das Gute und was das Böse? Menschen haben die Wahl. Beides ist vollkommen okay, nur die Folgen sind verschieden: Mit dieser finsteren These tauchen die Versucher vor dem Publikum auf. Immer werden sie angekündigt. Sie erscheinen im künstlichen Bühnenqualm, im schrecklichen Getöse der Gitarre von Jann Janssen und in scheppernden Misstönen der Instrumente des meisterlichen Jugendorchesters der Kreismusikschule.
Die Versucher verdrehen mit ihren Intrigen den Menschen reihenweise Herz und Hirn. Der Hofnarr fällt ihnen als erster für einen Schluck Wein zum Opfer, dann das Kindermädchen, vier freiende Prinzen und die Hofschranzen, schließlich der König. Er holt sich aus Gründen der Staatsräson ahnungslos eine der Versucherinnen als neues Kindermädchen für die Prinzessin ins Schloss, denn sie soll auf eine staatstragende Heirat vorbereitet werden. Die Prinzessin klagt, da sei kein Licht in den Augen ihrer neuen Kinderfrau. Aber der Vater will nichts fühlen. Der Verstand soll die Geschäfte regeln und übersieht alle Gefahr.
Es gibt fantastische Momente in diesem Stück, die jeden ermuntern möchten, für einen Augenblick den Atem anzuhalten.
Wenn die Versucher ihre Gemeinheiten aushecken, erstarren die ahnungslosen Menschen um sie her für Sekunden in allen Bewegungen. Ein kleines Innehalten, ein Zeitfenster, das uns einen Blick auf die Versuchungen der Welt werfen lässt: Neid, Missgunst, Intrigantentum, vorschnelles Urteilen und Fremdenfeindlichkeit. Die sieben Todsünden sind ungefähr beisammen.
Einer der Versucher bestiehlt auf der Bühne einen ausländischen Bürger. Als der sich beschwert, entsteht ein Tumult. Die königliche Wache schreitet ein und verhaftet – den geschädigten Fremden.
In diesem Stück spielen gleich mehrere teils unbegleitet geflüchtete Kinder und Jugendliche mit. Das Leinerstift hat sie vermittelt.
Während der Theaterpause fließen im Cateringraum bei einem jungen Iraker Tränen. Er ist froh, bei den Gassenhauern mitmachen zu dürfen und einfach ein Jugendlicher unter anderen Jugendlichen zu sein, die Theater spielen; doch seine Eltern sind im Irak. Wie gern würde er seine Freude und die Bilder der Aufführung mit ihnen teilen. Nur hat die Familie keinen Zugang zu digitalen Medien. Dezhwan Fatah sind Sehnsucht und Enttäuschung anzusehen. Elisabeth Funke, Veronika Göhlinger und Mechthild Möhlenkamp nehmen ihn in ihre Mitte: Familie Gassenhauer.
Das Stück geht in die zweite Halbzeit. Die vier freienden Prinzen konkurrieren um die größte Perle und das wärmste Gewand für die Prinzessin. Sie schleppen die teuersten Schätze der Welt an und kommen doch gegen den Waldjungen nicht an. Der wirbt ebenfalls um die Prinzessin und lässt sich vom Licht in seinem Herzen leiten. Seine größte Perle ist eine Kinderträne, die selbst ein verstocktes Herz erweicht. Sein wertvollstes Gewand sind Worte, die das Innere wärmen.
Hier und immer wieder lauert unendlich viel Witz mit lokaler Einfärbung. Als gleich mehrere Darsteller in einem Streit zu Boden gehen und jemand empört ruft: „Ja, wo sind wir denn hier!?“ antwortet ein anderer: „In Aurich.“ Der Saal lacht. Dann der Nachsatz: „Am Carolinenhof.“ Einer der Prinzen präsentiert als kostbarstes Gewand einen Friesennerz („Den braucht man hier mehr als alles andere“). Und wenn jemandem Verbannung droht, dann in ein fürchterliches Land. Ins Emsland.
Unterdessen geht es für die Freier an die dritte Aufgabe: Wer den größten Schritt tut, soll die Prinzessin haben. Die Prinzen wollen wissen: „Was ist ein Schritt?“ Ein Schritt ist ein Schritt. Klar. Klar? Ein Fuß hebt ab und ein Fuß setzt auf. Da ist wieder so eine kleine Anfrage: In welchen Schritten meistern Menschen die „staatstragenden“ Aufgaben ihres Lebens? Die Prinzen versuchen es mit billigen Tricks. Die Prinzessin weint. Der Waldjunge erkennt, wie unwürdig das Spiel ist und will sich zurückziehen, um das Mädchen zu schonen. Genau damit tut er den größten Schritt: Er leistet Verzicht. Die Prinzessin ist sein und wird postwendend von ihrem Kindermädchen vergiftet…
Der Waldjunge will schon aufstecken. Doch die Freundinnen der Prinzessin ermuntern ihn, auf sein goldenes Herz zu hören, denn es birgt das Gegenmittel in sich: die Liebe.
Wie könnte sie schöner bewiesen werden als durch einen Kuss. Die Prinzessin erhebt sich, und alles wird gut.
Auf der Bühne gibt es viele glanzvolle Besonderheiten. Zum Beispiel den Märchenonkel, im normalen Erdenleben Dieter Ernsing geheißen. Er treibt nicht nur das Stück als großväterlicher Erzähler voran, er souffliert auch auf unnachahmliche Weise. Wirklich geflüstert wird allerdings nicht. Wenn einer der Darsteller ins Stocken kommt, ruft er einfach: „Märchenonkel!“ Der liefert den fehlenden Satz, und weiter gehts.
Irgendwie gerät auch dieser kleine Umstand zu einem Beispiel für den Umgang im Team: Einer leiht dem anderen seine Stimme; eine reicht der nächsten ihre Hand. Wenn die Choreographie der vielen Kinder und Jugendlichen auf der Bühne nicht ganz optimal glückt, rücken die, die im Moment den besseren Überblick haben, die anderen perfekt ins Licht.
So entwickeln die drei Hofdamen für ihre Mitspieler fast mütterliche Qualitäten. Im Stück mimen sie selbstsüchtige Schranzen, die mit ihrem höfischen Gezanke und zickigem Geziere für beste Stimmung sorgen. Die Drei sind eine Wucht, vor allem, wenn sie wie aus einem Mund mit schrillen Kurzsätzen ihre Intrigen spinnen. „Die Prinzessin muss weg! Weg! Weg!“
In diesem Miteinander bewegen sich die Kinder und Jugendlichen auf der Bühne, als seien sie dort zu Hause. Am Ende gibt es standing ovations vor allem für die Gassenhauer, für die Initiatorinnen Elke Warmuth und Isburga Dietrich, für Regisseur Claus Gosmann, für Lambertichor und Jugendorchester, für das Bühnenbild der Kunstschule miraculum, für das kooperierende Leinerstift, für Bürgermeister und Schirmherr Hans-Werner Windhorst (der kurzerhand das ganze Publikum der Familie Gassenhauer eingemeindet) und für viele, viele mehr.
Sie alle haben Kinder und Jugendliche Sätze sagen lassen, die sie mit in ihr eigenes Leben nehmen: Perlen und Pelze sind schön und gut, aber sie wärmen nicht wirklich, Zitat: „Es ist die Liebe, die die Menschen von der Kälte befreit.“
Weiterer Lesestoff:
Was für ein Theater
Da flossen Tränen
Mitschnitt Radiosendung über Gassenhauer
Fotoforum würdigt Gassenhauer in Ausstellung
Weitere Impressionen im Bild…