Den Morgen mit einem Kuss beginnen
Die 300 Seiten eines Buchs bewegen seit 2016 die Welt, und unlängst bewegte Dr. Martina Kreidler-Kos mit ihrem Vortrag über genau diese 300 Seiten im Papstwerk Amoris Laetitia die Gemüter in Neuauwiewitt.
Die Pfarreiengemeinschaft hatte zu ihrer Reihe „Der Glaube im Gespräch“ nach Aurich eingeladen. 20 Interessenten kamen und gingen in Herz und Verstand mit.
Martina Kreidler-Kos, Diözesanreferentin für Frauenseelsorge, Ehe- und Familienpastoral in Osnabrück, lüftete hinter manch unscheinbarer Aussage im Papst-Buch ganze Theologie-Konzepte, die in Wirklichkeit „umstürzlerisch“ sind. So bannte sie ihre Zuhörer mit teils bahnbrechenden Gewagtheiten von Franziskus.
Das begann schon mit der Übersetzung des Titels Amoris Laetitia: In der deutschen Ausgabe heißt sie weniger verlockend: „Über die Liebe in der Familie“. Tatsächlich bedeutet Amoris Laetitia die Freude der Liebe.
Und schon konnte Martina Kreidler-Kos sich in Neuauwiewitt an staunenden Gesichtern freuen, die von einem unerwartet „aufgeklärten“ Papst erfuhren, der Leidenschaft und Sexualität in seinem nachsynodalen apostolischen Schreiben für ziemlich gut befindet.
Nicht nur in der Theorie: Im Folgenden ging es immer wieder auch darum, wie alltagstauglich und nah an der Wirklichkeit der Menschen die päpstlichen Gedanken sind.
Gemeinsam mit Christoph Hutter – auch er ist in der Familienpastoral des Bistums aktiv – hat Kreidler-Kos ein Buch dazu verfasst: „Mit Lust und Liebe glauben“, unlängst im Schwabenverlag erschienen. Darin unterziehen die Autoren Amoris Laetitia einem Praxischeck und filtern ungewöhnliche wie schlichte und schöne Papst-Sätze zu Tage wie diesen: „Es ist gut, den Morgen immer mit einem Kuss zu beginnen“ – ein einfaches Wort wie viele andere, aber nicht einfach zu praktizieren.
Für ihn ist „die erotische Dimension der Liebe kein geduldetes Übel zum Wohl der Familie, sondern ein Geschenk Gottes. Begehren zu empfinden ist weder sündhaft noch tadelnswert.“
Und er sagt: „Die Liebe vertraut, lässt Freiheit, verzichtet darauf, zu kontrollieren, zu besitzen, zu beherrschen.“ Er meint nicht nur die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern auch die zwischen Kirche und Gläubigen.
Martina Kreidler-Kos faszinierte ihr Publikum in Aurich vor allem auch mit Papst-Gedanken zum Gottesvolk, dem eine ganz eigene Würde und Eigenverantwortung zukomme, da der Heilige Geist auch hier zu Hause sei.
Franziskus hält nichts von der Einbahnstraße, mit der die Kirchen-Lehre seit zwei Jahrtausenden den Verkehr zwischen oben und unten regelt. Er spricht ausdrücklich von seinem tiefen Vertrauen in Herz und Sehnsucht der Menschen und dreht übliche Betrachtungen einfach um, wenn er sagt: „Die Freude der Liebe, die in den Familien gelebt wird, ist auch die Freude der Kirche.“
Die Referentin zitierte mehrfach Walter Kardinal Kasper. In einem Interview mit der ZEIT hatte er über ein Gespräch mit Franziskus gesagt: „Wir wollten die Kluft zwischen der kirchlichen Lehre und der gelebten Überzeugung vieler Katholiken nicht nur beklagen, sondern sagen: Die Lehre erscheint heute vielen lebensfremd. Darauf müssen wir reagieren. Es genügt nicht, ein altes Familienmodell hochzuhalten.“
Oder im O-Ton Franziskus: „Eine übertriebene Idealisierung hat die Ehe nicht attraktiver gemacht, sondern das völlige Gegenteil bewirkt.“
Bemerkensweret für Martina Kreidler-Kos ist vor allem dies: Dem Papst sei es gelungen, Amoris Laetitia im Einklang mit der Lehre der Kirche zu schreiben. Noch einmal Zitat Kasper: „Der Papst ändert keine einzige Lehre, und doch ändert er alles.“
Und noch eine Kostprobe: Kreisler-Kos zitierte den philippinischen Erzbischof zu Manila, Luis Antonio Tagle: „Die Familien sind nicht dazu da, der Kirche zu gefallen. Die Kirche ist für die Familie da.“
Die Referentin machte an solchen Aussagen kirchliche Selbstkritik an bisheriger Lehre und Verkündigung fest.
Das Stereotyp einer Idealfamilie sei keine Hilfe für Familien, die eher als bunte Collagen daherkämen.
„Ideal besetzte“ Familien mit Vater, Mutter, Kindern aus einer Ehe seien kein Garant für gelingendes und liebevolles Leben.
Das finde sich gleichermaßen in Patchworkfamilien oder Familien mit gleichgeschlechtlichen Elternteilen.
Neu ist für sie im Papstschreiben das positive Menschenbild. Franziskus zeige allen Menschen gegenüber tiefes Vertrauen und einen würdigenden Blick und messe ihrem eigenen Gewissen große Bedeutung bei. Auch hier verlangt er keine Wunder, sondern vertraut darauf, dass Menschen dem Evangelium, so gut es ihnen möglich ist, entsprechen: „Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen.“
Seine lebensabbildende „literarische“ Vorlage: „Die Bibel ist voller Geschichten der Liebe wie auch der Familienkrisen.“
Neu ist für Martina Kreidler-Kos auch die Hochschätzung der Wirklichkeit und des menschlichen Wachstumsprozesses: Menschsein nicht als Zustand, sondern Menschwerdung als Entwicklung im konkreten Alltag. Der Papst meint, Menschen könnten objektiv in einer Situation der Sünde leben, die subjektiv nicht schuldhaft sei und in der die Gnade Gottes dennoch leben könne.
Bei Franziskus, das wurde an dem Abend immer wieder deutlich, liegt über allem die Barmherzigkeit, die nicht pauschal kirchenrechtlich beschuldigt, sondern jeden einzelnen Fall und Menschen in den Blick nimmt, auch bei den wiederverheiratet Geschiedenen. Göttliche Gnade spricht er niemandem ab.
Er hält nichts vom Steinewerfen und sagt über die Haltung einiger Kritiker: „Manche möchten das Evangelium zu toten Steinen machen, mit denen man andere bewerfen kann.“
Er ist davon überzeugt, dass Christus eine Kirche möchte, die Gutes auch inmitten des Schwachen verbreitet und dass menschliches Scheitern nicht das letzte Wort haben darf.
Text und Fotos: Delia Evers