Die Wand hat einen starken Herzschlag

Ein neues Kino – das ist ein seltsamer Ort für eine Gedenkfeier zum 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht 1938. Er hätte nicht besser gewählt sein können. Denn genau an der Stelle…

… an der überraschend viele Auricherinnen und Auricher den Saal 6 füllten, hatten auf den Tag genau 81 Jahre zuvor SA-Männer Juden aus der ganzen Stadt zusammengetrieben – in der so genannten Bullenhalle. Daran erinnert im Kino jetzt ein Kunstwerk.

Zum Auftakt der Feier von Deutsch-Israelischer Gesellschaft Aurich (DIG) und „Ökumene in Aurich“ sang der Projektchor Neunter November „Das blaue Klavier“, gedichtet von Else Lasker-Schüler. Die Jüdin hatte es 1937 im Züricher Exil geschrieben. Das blaue Klavier, ein Puppenklavier, hatte einst zu ihrem Spielzeug gehört. Für sie wurde es zum Symbol ihrer Kindheit, zerbrochener Träume und utopischer Hoffnung.

Der Vorsitzende der DIG Ulrich Kötting zog Verbindungen zwischem dem, was damals möglich war, und dem, was heute wieder möglich ist: Menschen lassen sich zu Rassismus, Ausgrenzung und Menschenfeindlichkeit hinreißen. Schon nach der NS-Zeit hätten Täter in der jungen Bundesrepublik schnell wieder Fuß fassen können, berichtete Jurist Kötting, und nannte den NS-Juristen Karl Larenz. Nach dem Zusammenbruch von Nazi-Deutschland habe er als Zivilrechtler und Rechtsphilosoph gearbeitet. Das erste Lehrbuch, das er, Kötting, als junger Jurist in die Hand bekommen habe, sei von Larenz verfasst gewesen.

Kötting zitierte aus einem Larenz-Aufsatz von 1935: „Nicht als Individuum habe ich Rechte und Pflichten und die Möglichkeit, Rechtsverhältnisse zu gestalten, sondern als Glied der Volksgemeinschaft. Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist. Wer außerhalb der Volksgemeinschaft steht, steht auch nicht im Recht.“ Die juristische Begründung für die Rassenideologie war in der Welt.

Die Landwirtschaftliche Halle, auch Bullenhalle genannt. An dieser Selle steht heute das Kino. Foto: Bildarchiv der Ostfriesischen Landschaft.

Rassistischen Bestrebungen müsse sich die Gesellschaft heute „mit allen Kräften widersetzen“, forderte Kötting. Er zitierte Bertolt Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“.

Er ist es bis heute. Lars Tietgen, hauptamtlicher Gemeindereferent im pastoralen Dienst in der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde Rahe und Sprecher der Ökumene, sagte, mit einem Gedenken an diese Taten, die es auch in Aurich gegeben habe, sei es nicht getan. Ganz aktiv müsse jeder die demokratischen Werte hochhalten, schädliche Entwicklungen auch in der Kirche und in ihren Gemeinden erkennen und ihnen mit friedlichen Mitteln begegnen. „Wir dürfen nicht vergessen.“

Er bat die vielen Menschen im Saal aufzustehen. Sie erhoben sich. Tietgen sprach in der Wir-Form und bezog alle, die aufgestanden waren, ein. So bekräftigten sie, sich rassistischen Tendenzen zu widersetzen; sie verneigten sich vor dem Leid und der Kraft jüdischer Menschen.

Das war ein Bekenntnis und ein tief-emotionaler Moment. Der Holocaust-Überlebende Ivar Buterfas-Frankenthal, mit seiner Frau Dagmar Ehrengast bei der Gedenkfeier im Kino, stand auf, reichte Lars Tietgen die Hand und sagte bewegt „Shalom“.

So sah die Auricher Synagoge einst aus. Foto (wie auch das folgende): Entnommen dem Film, der am 9.11.2019 im Kino gezeigt wurde.

Der Künstler Ricardo Fuhrmann, dessen Emder Vorfahren vor Nazi-Deutschland nach Argentinien geflohen waren, sprach über das Werk im Kino, das als Wandcollage an die Reichspogromnacht in Aurich erinnert. Alle jüdischen Männer, Frauen und Kinder waren in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, nachdem ihre Synagoge in Flammen gesetzt worden war, aus ihren Häusern getrieben worden. Die SA plünderte und verwüstete ihr Hab und Gut. Frauen und Kinder durften zurück. Die Männer mussten zur Landwirtschaftlichen Halle „marschieren“ und ein fröhliches Lied singen: „Muss i denn zum Städele hinaus“ – mit der Abwandlung: „… und du, Sarah, bleibst hier.“

Den Vornamen Sarah nutzten Nazis als Synonym für eine jüdische Frau. Das Lied kündigte das nächste Verbrechen an. Nachdem die Männer in der Bullenhalle grausam schikaniert und gedemütigt worden waren, wurden sie zu Arbeitseinsätzen gezwungen und schließlich deportiert.

Jüdische Männer werden von der SA zur Bullenhalle getrieben.

Ricardo Fuhrmann erzählte von einem Ereignis, das zehn Tage zurückliegt und das er gemeinsam mit Künstlerkollege Davis Elin erlebte. Eine munter plappernde Austausch-Schülergruppe, je zur Hälfte deutsche und israelische Jugendliche, hatte sich im Kino das Kunstwerk angesehen. Fuhrmann erzählte den jungen Menschen, was dort einst geschehen war. Er sei sehr überrascht gewesen von der großen Stille und einer spontan entstandenen und tiefen Verbindung zwischen allen und allem. Er habe einen Einklang gefühlt zwischen der Gruppe, der Wand und dem historischen Grundstück. Das habe ihn sehr bewegt.

„Die Wand hat einen starken Herzschlag. Und die Schüler haben ihn gehört.“

Blick auf einen Teil des Kunstwerks: Es sieht auf den ersten Blick aus wie ein abstraktes Gebilde. Doch es zeigt auf dem angedeuteten Grundriss der Bullenhalle ganz konkret Fußspuren. Sie erinnern an die Fußspuren, die jüdische Männer hinterließen, als sie dort bis zur Erschöpfung umhergetrieben wurden.

In der Reichspogromnacht zersplittertes Leben.

Die Geschwister Astrid und Kathrin Muckli, die die Gedenkveranstaltung im Kino und das Kunstwerk mit ermöglicht hatten, zeigten einen Film über die Ereignisse von damals, beschrieben von Wolfgang Freitag (DIG) – ein eindrucksvoller Streifen, der die Ereignisse ungeschminkt grausam vor Augen führt.

Den Abend beendete der Projektchor mit einer Uraufführung von Chorleiter Heinrich Herlyn, der „Auricher Todesfuge“. Das Stück ist angelehnt an Paul Celans Gedicht „Die Todesfuge“, das mit lyrischen Mitteln die nationalsozialistische Judenvernichtung beschreibt. Im heftigen Stoff, der inmitten jiddischer Klezmermusik auch die Auricher Ereignisse schildert, überlebt ein jiddischer Satz, zum Schluss immer wieder gesungen: „Mir lebn ejbig“.

Wir leben ewig. Möglich ist auch diese Übersetzung: Wir leben trotzdem.

Text und Fotos (Kunstwerk): Delia Evers