Eine Wallfahrt und der Himmel als Tankstelle
Eine berührende und inspirierende Zeit erlebten knapp 40 Teilnehmer der 12. Norder Küsten-Wallfahrt im Pilgerort Kevelaer, darunter mehrere Mitglieder unserer Pfarreiengemeinschaft Neuauwiewitt.
Der größte Teil der Reisegesellschaft stieg Freitag früh an der St.-Ludgerus-Kirche in Norden ein. Etwas später las der Reisebus die „Auricher“ quasi vor ihrer Haustüre am ZOB auf; und ab ging es an den Niederrhein.
Vor Ort zogen die Ostfriesen zur Gnadenkapelle mit dem Gnadenbild der Trösterin der Betrübten und entboten ein herzliches Moin. Später ging es mit Vortragekreuz und Banner zur Pilgerandacht in die Marienbasilika. Die Predigt zum Leitgedanken der Wallfahrtszeit „Wohin sollen wir gehen, Herr?“ hieß die Gläubigen an diesem Ort des Trostes willkommen. Die Botschaft: Christen können dorthin gehen, wo sie sich dem Herrn nahe fühlen, zum Beispiel an den Gnadenort der Mutter Jesu, die ihrem Sohn bis zuletzt so eng verbunden blieb wie niemand sonst.
Nach der Pilgerandacht bekamen die Ostfriesen ein außerordentliches Geschenk. Basilikaorganist Elmar Lehnen entlockte seiner – mit rund 150 klingenden Registern bestückten – Orgel und ihren 10.000 Pfeifen eine Klangfülle, die tief in die Herzen fiel. Lehnens fantastische Improvisationen zeigten den Meister. Er kam von der Orgelbühne und lud die Gruppe ein, ihn zum Spieltisch hoch droben im Gotteshaus zu begleiten.
Ein schwindelfreier Teil der Pilger drechselte sich die enorm eng gespindelte Treppe hoch und fühlte sich, oben angekommen, wie auf einem Berggipfel.
Vor ihnen breitete sich die ganze Pracht und Hoheit der päpstlichen Basilika aus – ein wunderbarer Arbeitsplatz.
Jannick, der jüngste der Gruppe, durfte ein Liedchen spielen. Das schaffte er fehlerfrei. Die Melodie, die er wählte, sprach Bände: „Freude, schöner Götterfunken.“
Lehnen übernahm; und die Reisegesellschaft fühlte in der Fülle der Töne und ihrer Klangfarben, in der Vibration zwischen Wispern und Dröhnen Beethovens Freude am eigenen Leib, ehe sie sich von Lehnen und der größten deutsch-romantischen Orgel der Welt verabschiedete.
Die Gruppe versammelte sich zum Kreuzweg im Marienpark und bedachte an 15 Stationen das Leiden Jesu und das Leiden in der heutigen Welt.
Nach dem Abendessen erzählte Stadtführerin Marianne Heutgens, die zum elften Mal ehrenamtlich die ostfriesische Pilgergruppe begleitete, von den Besonderheiten der Wallfahrt und speziell der Basilika. Ihre Ausmalungen gehen auf Maler Friedrich Stummel zurück, dessen Todestag sich im September 2019 zum 100. Mal jährte.
Am Samstag feierte die Gruppe ihre eigene Heilige Messe in der Klosterkirche der gastfreundlichen Klarissenschwestern, eine Messe, die immer sehr persönlich ausfällt; denn in vertrauter Runde öffnen sich die Gläubigen leichter. Ihre Not und ihre Bitten sind unmittelbar Thema und werden von der ganzen Gruppe mitgetragen. So war es auch diesmal. Lasten lösten sich; Hände drückten Hände; und Arme legten sich sacht um Menschen, denen Tränen kamen.
Der geistliche Begleiter, Militärpfarrer Gerhard Schehr, nahm den Leitgedanken der Wallfahrt wieder auf: „Wohin sollen wir gehen, Herr?“ Schehr ermunterte die Gläubigen, sich auch im Alltag immer wieder Kraft von oben zu holen. Denn der Himmel sei wie eine Tankstelle, die die Menschen mit Energie für den weiteren Weg versorge. Gefüllt mit dieser Kraft lasse sich die Frage „Wohin sollen wir gehen“ am Ende beantworten. Die Eucharistie war und ist wesentlicher Teil des Wegs.
Mit allen Pilgerinnen und Pilgern rund um den Altar segnete Gerhard Schehr die Wallfahrtskerze.
Viele freie Stunden lagen nun vor den Pilgerinnen und Pilgern. Sie schwärmten vom Hotel mitten im Herzen der Stadt in alle Richtungen aus, genossen die feinen Cafés und die Biergärten, die vielen Kunstwerkstätten mit ihren Auslagen, die Kerzen- und Krippengeschäfte und natürlich weitere spiritelle Orte der Wallfahrtsstadt. Besonders tat es einigen die alte Pfarrkirche St. Antonius an, die wie ein ruhiger und tief geerdeter Gegenpol zur reich und bunt ausgemalten Basilika wirkt.
Als beinah magischen Ort empfanden einige die Kerzenkapelle, Kevelaers älteste Wallfahrtskirche, in der zum Marienlob am Samstagabend auch die morgens gesegnete Kerze entzündet wurde. Hier trugen die Unseren die Gebete und Bitten weiterer Wallfahrtsgruppen mit, die an diesem Tag in Kevelaer weilten.
Nach Einbruch der Dämmerung fanden sich die Gläubigen vor ihrer Lichterprozession erneut in der Kerzenkapelle ein und freuten sich an dem Bild brennender Kerzen in mehreren Galerien übereinander. Wallfahrtsleiter Gregor Kauling sprach über den Dienst der Geistlichen, die im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils Laien seien: vom griechischen Wortursprung her „zum Volk gehörig“, zu Gottes Volk gehörig, nicht mehr und nicht weniger.
Die Konzilstexte sprechen von der „wahren Gleichheit“ aller Christen und der allen Gläubigen gemeinsamen Würde und Tätigkeit am Aufbau des Leibes Christi. Kleriker sind Diener des Prozesses und nicht Höherstehende vor Gott. Jede und jeder Getaufte nimmt auf eigene Weise an diesem Prozess teil.
Manchmal wünsche er sich, sagte Kauling, dass Herzen und Köpfe mancher Menschen sich wie ein Trichter öffneten, um diese Sicht einzulassen – und es Licht werden zu lassen. Kauling reichte das Licht einer Kerze weiter in die Reihe der Gläubigen. Die entzündeten daran ihre Kerzen und zogen singend und betend aus der Kirche in die Dunkelheit und hellten sie auf.
Am Sonntag erlebten die Ostfriesen mit dem Pontifikalamt in der Basilika ein Kontrastprogramm. Nina und Jannick zogen als Ministranten mit ein und hüteten zwischenzeitlich Bischofsstab und Mitra von Willem J. Kardinal Eijk. Die Kinder belebten das Bild. Sonst war alles feierlich-traditionell und wirkte fast ein bisschen statisch. Ganze Teile von Messe und Liedgut wurden auf Latein gesungen und gebetet. Das innere Mitgehen war für manchen Gläubigen schwer. Der Kardinal machte es mit seiner konservativen Predigt nicht leichter.
Ihm begegneten die Unseren noch einmal vor der Gnadenkapelle. Eigentlich waren sie davon ausgegangen, dass der Zelebrant wie von jeher üblich mit ihnen dort den Angelus beten würde. Aber Eijk kam nicht. So stellte sich die Ostfriesen-Gruppe im Halbrund vor dem Gnadenbild auf und betete den Angelus aus eigener Kraft. Sie sang zum Abschluss gerade „Maria breit den Mantel aus“, als der Kardinal doch noch kam, sich zwischen die Beter und das Gnadenbild stellte, ihnen so die Sicht nahm und seinerseits betete.
Als die Gruppe ihr Lied beendet hatte, war auch der Kardinal fertig. Er ging nicht auf die Gruppe zu, sondern verließ den Raum Richtung Priesterhaus. Marianne Heutgens bat ihn zurückzukehren. Das tat er. Es gab ein paar höfliche Sätze und ein Foto mit einigen Pilgern vor dem Gnadenbild – „ein Laie“, siehe oben, war der Kardinal in diesem Moment eher nicht. Später erfuhr die Pilgergruppe, dass er nach dem Pontifikalamt in der Sakristei das Wallfahrtsbanner noch einmal gesegnet hatte – für die Teilnehmer eine schöne Erfahrung.
Die Gruppe kletterte in ihren Reisebus. Zuvor hatten Gruppenmitglieder allerdings mutwillig in den Verkehr eingegriffen, sonst hätte Busfahrer Johann, ein echter Schatz, den Hintern seines großen Gefährts nicht um die Ecke bekommen.
Den Abschluss der Wallfahrt feierte die Gruppe in Duisburg-Neumühl im Schmidthorster Dom und im naheliegenden Sozial-Café „Offener Treff mit Herz“. Er ist vor allem Pater Tobias Breer zu verdanken, der am selben Tag den Berlin-Marathon mitlief. Der Pater läuft und läuft und läuft und tut so Schritte, die die Welt ein Stück verändern: Denn er läuft für mehrere Projekte in Neumühl, die u.a. Menschen mit Migrationshintergrund oder Handicaps Anbindung und Arbeit geben – z.B. in dem Café, in das die Gruppe eingekehrt war.
Zu diesem Zeitpunkt hatten viele in der Pilgergesellschaft längst zusammengefunden. Sie hatten sich Lebensgeschichten erzählt, von ihren Sorgen und Freuden berichtet, von ihrer Arbeit in den Gemeinden, von Kindern und Krankheiten, von Partnern und Freunden. Sie hatten zugehört, mitgefühlt und Leidvolles mitgetragen. Sie waren – ganz wie es Wallfahrtsleiter Gregor Kauling gesagt hatte – einander zugehörig. Das empfanden viele tief.
Text und Fotos: Delia Evers