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Gassenhauer – natürlich ging was daneben

[1]Natürlich ging was daneben. Irgendwas geht immer daneben. Allerdings nicht bei den jugendlichen Gassenhauern und ihrer jüngst umjubelten Theateraufführung, sondern gleich zu Beginn ausgerechnet…

… bei Elke und Isburga, den Initiatorinnen des Familien-Projekts.

Dr. Elke Warmuth begrüßt pünktlich das 500 Leute starke Publikum. Hinter dem Vorhang warten die Darsteller auf ihren Einsatz. Davor durchpflügt Isburga Dietrich noch immer eine Requisitenkiste und zischt ungehaltenes Zeug vor sich hin. Sie zieht einen Regenschirm nach dem anderen hervor und schmeißt sie wütend zur Seite.

Elkes hochprozentige Konzentration verliert mit jedem Schirmschmiss ein bisschen an Fassung, während Isburga sich zäh und fluchend auf den Grund der Kiste vorwühlt.

Elke erzählt dem Publikum vom Gassenhauer-Projekt: „Gemeinsam mit unserem Theaterpädagogen Claus Gosmann spielen wir mit Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen Bezügen Theater.“ Schirmschmiss von Isburga. „Viele unserer Jugendlichen brauchen Unterstützung auf sozialer und/oder emotionaler Ebene.“ Schirmschmiss. „Durch das Theaterspielen erhalten sie spielend Schlüsselkompetenzen wie Durchhaltevermögen und Verantwortungsgefühl.“ Schirmschmiss. Jeder Wurf ist ein Ausrufezeichen.

„Sie erleben Freundschaften, lernen Körpersprache. Sie erfahren Wertschätzung und erleben kleinere und größere Erfolge. Jede Vorstellung ist für uns Organisatorinnen spannend und eine Herausforderung. Den meisten Schauspielern fällt das Lernen nicht gerade leicht: Jeder von unseren Jugendlichen hat seine eigene Geschichte. Und allein, dass sie heute hier sind – auf den Brettern, die die Welt bedeuten – ist ein Erfolg!“ Allein, dass sie heute hier sind, ist ein Erfolg. Der Satz hat Tragweite.

Er fällt fast zusammen mit plötzlichem Triumphgeheul. Wegen des Erfolgs? Isburga reißt einen Schirm in die Höhe. „Ich hab ihn!“ Sie spannt das Teil auf. Ganz viele Gassenhauer-Kärtchen hängen daran. Und im Nu weiß jeder im Saal, warum dieser Schirm so wichtig ist. „Ein Schirm für den Schirmherrn“, ruft Isburga und bittet Bürgermeister Heinz-Werner Windhorst auf die Bühne. Denn Erfolg gibt es nur, wenn viele Menschen ihre Möglichkeiten einsetzen können – wie der Bürgermeister.

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Ein Schirm für den Schirrmherrn: Heinz-Werner Windhorst mit Isburga und Elke.

Er hat jede Aufführung der Gassenhauer bestens beschirmt und sie immer wieder mit Informationen, z.B. zu möglichen Geldtöpfen für das Spenden-Theater, gestützt. Auch jetzt bekennt er sich kurz und wohlgesetzt zum Qualitätsprojekt der Gassenhauer mit tollen jungen Menschen und einem tollen Team an ihrer Seite.

Die Aufführung kann beginnen. Und wieder geht etwas schief. Der Vorhang streikt verschlossen. Liedermacher Jann Janssen überspielt die Hängepartie mit einem Introitus, der immer länger wird. Als nicht mehr zu übersehen ist, dass der schwere Samt dicht hält, setzt Jann seine Gitarre ab.

Plötzlich entruckeln sich die Ziehleinen, der Vorhang geht auf; der erste Applaus füllt den Saal; in den Beifall hinein nimmt das Stück Fahrt auf und schlägt von der ersten Minute an sein Publikum in den Bann.

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Rund 500 Gäste wollen das Stück erleben.

Eine junge Frau steht auf der Bühne. Verloren. Unschlüssig. Sie denkt und redet in halben Sätzen. „Ähm, also, die vom Theater haben gesagt, ich soll das mal machen … weil das zu diesem Stück hier irgendwie passen würde… tja, wenn ich nur wüsste, was jetzt hier passt oder … was ich machen soll … tja … hier gibt es auf den ersten Blick nicht viel zu tun … und … auf den zweiten auch nicht … das ist natürlich eine schwierige Situation … für mich … wie gesagt … das war nicht meine Idee … vielleicht … ich setze mich da mal hin… oder … ich bin gar nicht da…?“

So kann es Demenzerkrankten gehen. Verloren und unschlüssig stehen sie da. Sie spüren, dass sie etwas wissen müssten, aber nicht zusammenbekommen, und dass andere es von ihnen erwarten, sie aber nicht liefern können. Denn sie haben Gedankenlücken, Erinnerungslücken und Fehlschaltungen. Leere. „Was ist bloß mit meinem Kopf los?“, ruft im Stück verzweifelt Oma Roth.

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Oma Roth mit ihrer Schwiegertochter unterm Sternenhimmel.

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Nicht einmal nachts kommen die Angehörigen zur Ruhe, weil die Oma „randaliert“. Einer von den beiden im Bett muss jetzt aufstehen. Es ist immer die Schwiegertochter. Streit ist programmiert.

Über den Gehalt des Stücks und über Kraft und Qualität der Darsteller haben wir mehrfach berichtet und fassen uns in diesem Punkt kurz: Die jungen Leute spielen noch authentischer als im vergangenen Jahr. Jeder von ihnen gibt seiner Rolle – wie im großen Schauspielgeschehen – persönlich Ausstrahlung. Als Herr Rombach sich im Stück an vergangene Zeiten mit seiner jetzt dementen Frau erinnert, wischt er sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Das ist mehr als ein Spiel.

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Wo, um Himmels Willen, gehts nach Hause? Wie soll jemand den Weg finden, wenn sein ganzer Kopf dröhnt. Liedermacher Jann Janssen erzeugt den schmerzhaften Krach auf seiner Gitarre.

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Unsicherheit, Einsamkeit, Angst, Verlorensein – all diese Dämonen umringen die Erkrankten.

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Demenz ist nicht lustig. Darf man trotzdem über Demenzerkrankte lachen? Aber ja: Humor entlastet. Die Zwillinge spielen einen Witz – und haben sichtlich Spaß daran.

Vor allem zeigen die Gassenhauer, was Menschen auf die Beine stellen können, wenn jeder sein eigenes Talent einbringen darf. Theaterpädagoge Claus Gosmann schaut darauf, dass jede und jeder eine Rolle bekommt, die seinen Stärken entspricht. Denn Stärken haben alle. Und erst alle Stärken zusammen bringen ein tolles Stück zusammen.

Der Regisseur und das Führungsteam allein würden nichts auf die Beine stellen. Es braucht unterschiedlichste Menschen, die mitmachen und das Stück anhand eines Drehbuchs mit Leben füllen. Das große Ziel der Gassenhauer: die jungen Menschen mit Freude für ihren eigenen Weg stärken! Zugleich lässt die Regie buchstäblich Spielraum für flexible Anpassung, z.B. wenn ein Darsteller plötzlich ausfällt (was auch vor der jüngsten Aufführung passierte).

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Sandra kommt ihrem Vater näher und schafft es, in seine Welt einzutreten. Da wird plötzlich Leben wach.

Es ist großartig, dass gerade junge Menschen mit Unterstützungsbedarf dieses hochklassige Theater auf die Bühne bringen, in dem wirklich jede und jeder zum Zuge kommt. Die kleinste Rolle wird mit gleicher Akribie und Empathie begleitet wie die großen Rollen. Jede Person bringt sich ein; jede hat ihr eigenes Gewicht für das Ganze.

Das gilt auch im wirklichen Leben. Doch da stoßen junge Gassenhauer momentan auf eine Wand. Sie haben in den vergangenen Jahren in ihrer Theaterfamilie immens viel Rüstzeug gesammelt. Sie haben sich gegen große Widerstände auf den Weg in ein „normales“ Leben gemacht. Und genau an diesem Punkt sind sie mit unerwarteten Problemen konfrontiert. Einige bekommen keine Arbeitsstelle.

Denn mit dem oft überraschend guten Schulabschluss endet die Inklusion von Menschen, die in ihrem jungen Leben Probleme schultern mussten, von denen andere lieber erst gar nichts wissen wollen.

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Immense Leistung der jungen Darsteller.

Wer mehr zum Thema Arbeitssuche wissen möchte, wendet sich an Isburga Dietrich, Tel. 04941-9803243, Mail isburga.dietrich@gmail.com [11], oder an Dr. Elke Warmuth, Tel. 04941-62712, Mail elke.warmuth51@gmail.com [12].

Ach ja, kurz vor Ende des Stücks am Samstag vermissten Elke und Isburga ihre schriftlich verfasste Dankesrede an all die, die sich im Laufe des vergangenen Probenjahrs ehrenamtlich engagiert hatten. Alle sollten genannt sein. Und nun? In großer Eile kritzelte Pädagogin Isburga in roter Lehrertinte eine Namensliste zusammen. Mit Elke trat sie ins Rampenlicht. Das Rampenlicht leuchtete Rot – und neutralisierte die Tinte auf dem „Ruhmes-Blatt“. Nichts war zu lesen. Isburga und Elke brachten trotzdem einen würdigen Dank zusammen.

Aber sonst ging alles glatt? Na ja, fast. Elke…

Zwischen den Auftritten hatte sie als Bühnenarbeiterin Requisiten durch den Raum geschoben und gewohnt ungestüm eine hohe Säule im Bühnenbild gefällt. Es krachte heftig im Karton. Am Ende lachte Elke am lautesten über diesen „Knall auf Fall“ und ließ keinen Zweifel aufkommen: Nicht nur sie ist umwerfend – alle „Gassenhauer haben Power“.

Text und Fotos: Delia Evers

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Die Gassenhauer stellten das Altenheim „Haus des inneren Friedens“ vor – natürlich ein fiktives Heim, dessen Haltung gegenüber seinen Bewohnern hoffentlich ausgestorben ist.

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Sekundengenau getaktet werden die Bewohner dieses Hauses mit Essen gestopft.

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Und im Sekundentakt geht auch das Frisieren vonstatten. Da zieht’s schon mal am Schopf der alten Menschen.

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Ein Patient wehrt sich und wird von einem Helfer zu Boden gerungen.

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Doch dann schaffen sie gemeinsam wenigstens eine kurze Befreiung; und sie lassen den Bär tanzen. Ein altvertrautes Lied hat sie geweckt.

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Dennoch: Die Umnachtung lässt sich nicht umkehren. Die Patienten irren wie blind umher. An ihrer Seite sind Menschen, die sie halten und begleiten.

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Das Theaterstück ist zu Ende: Befreit und ausgelassen präsentieren sich die Gassenhauer beim Schlussapplaus auf der Bühne.

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Natürlich müssen auch Isburga (v.l.), Claus und Elke noch einmal vor ihr Publikum treten. Im Hintergrund mit dabei sind Klaus Schütze, Vorsitzender des Vereins zur Förderung von Kinder- und Jugendtheater in Aurich e.V., und Liedermacher Jann Janssen. Tanzpädagogin Dr. Katharina Lühring ist an diesem Abend leider verhindert. Sie hat den Dämonentanz und noch viel mehr choreographiert.

Links zu Gassenhauer-Aufführungen:
Beitrag über die Theateraufführung in der Stadthalle 2018 [21]
Beitrag über die Kurz-Aufführung in der St.-Ludgerus-Kirche 2018 [22]