Menschen nicht zu Feinden machen

Von Delia Evers | Gottesdienst in Lamberti zum Volkstrauertag 2015

Oben in der Kanzel der Lamberti-Kirche steht ein alter Mann. Er war schon vor 70 Jahren alt, alt genug jedenfalls, um auf Menschen zu schießen. Den Gläubigen im ökumenischen Gottesdienst zum Volkstrauertag stockt der Atem: Pastor Carl Osterwald fragt, welchen Weisungen wir folgen sollen, und legt unvermittelt ein persönliches Schuldbekenntnis aus jenen Tagen vor 70 Jahren ab. Nicht, weil er seine eigene Geschichte erzählen, sondern weil er zeigen möchte, wie schnell wir zu Tätern werden und die wichtigste Weisung aus dem Herzen verlieren.

Pastor in Ruhe Carl Osterwald (vorn 2.v.r.), links neben ihm Pfarrer Johannes Ehrenbrink und Pastor Jörg Schmid sowie rechts Superintendent Tido Janssen.

Carl Osterwald spricht fast ohne Gestik in knappen Sätzen. Er macht lange Pausen, so als wolle er der Vorstellungskraft der Menschen in der Kirche aufhelfen und Zeit geben. Er erzählt ohne Selbstmitleid, ohne sein jugendliches Alter von damals zu erwähnen, überhaupt ohne irgendeinen Hinweis, der die Umstände mildern könnte. Er erzählt von einem Tag im April 1945. Er ist Soldat und steht mit seiner Waffe in einem Oder-Dorf an einer Häuserecke. Er soll das Dorf mit seinen Kameraden halten. Es dämmert. Die Russen sind schon vor Ort. Einer von ihnen läuft Richtung Häuserecke. „Er sah aus wie ein Bauer, der gerade nach Hause kommt.“ Ein ganz normaler Mensch.

In Lamberti liegt eine atemlose Stille und vielleicht eine kleine, hartnäckige Hoffnung, die Erzählung möge noch eine versöhnliche Wendung nehmen. Hat die Gemeinde doch gerade erst gesungen: „O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.“

Osterwald fällt unvermittelt in die Gegenwartsform. Schnell schildert er die Sekunden-Begegnung mit dem Russen. „Ich jage ihm einen Feuerschuss in die Brust. Er bricht zusammen und ist tot.“

Kein Laut ist im Kirchenraum vor der Kanzel zu hören, so als ob jeder Ton hinter der Tat zu schweigen hätte.

Osterwald erzählt weiter. Jahre nach Kriegsende sitzt er mit seinen vier Kindern zusammen. Die Jüngste, damals vielleicht zwölf, sagt:

„Du warst doch damals auch dabei. Was hast du gemacht? Hast du getötet?“

„Ja, was habe ich gemacht? Ich habe auch getötet.“

Osterwald schildert diesen einen Augenblick, in dem er in die entsetzen Gesichter seiner Kinder schaut. „Es war ein Augenblick von Wahrheit, von Licht und Klarheit.“ Trug und Schein sind vergangen. Er hat getötet: „Ja.“

In der Predigt bricht es aus Osterwald heraus: All die vielen Millionen getöteten Russen „haben sich doch nicht selbst umgebracht! Wir haben das getan. Menschen machen Kriege. Das können wir nicht Gott in die Schuhe schieben. … Ich habe geschossen. Ich wollte töten. Das war Mord.“

Der alte Pastor spricht über „Todfeinde“, darüber, dass es Orden für das Töten der „Todfeinde“ gab, je mehr Tote, desto höhere Orden und desto höhere Heldenehre. „Wir holten uns unsere Weisungen vom Führer, ließen uns bestimmen und taten, was man erwartete.“ Jesus habe in seinem Evangelium vom Weltgericht (am Volkstrauertag vorgetragen von Pfarrer Johannes Ehrenbrink) eine andere Weisung gegeben und gesagt, was im Leben wirklich wichtig ist: die Hungrigen und Durstigen zu nähren, die Fremden und Obdachlosen aufzunehmen, die Nackten zu kleiden, die Kranken und Gefangenen zu besuchen – und dies auch den scheinbar Geringsten unter uns und damit zugleich Jesus Christus zu tun.

„Was ist in meinem Leben wirklich wichtig? Das Haus? Der Kontostand?“, fragt Carl Osterwald. Der Pastor zitiert die alte Weisheit: „Das letzte Hemd hat keine Taschen.“ Wir können nichts Materielles mitnehmen, nichts Irdisches, auch nicht schöne Karrieren, gesellschaftliche Anerkennung oder den aufwendig erzeugten Schein vorgeblich intakter Familien, Freundeskreise, Institutionen und Gruppierungen, in denen es in Wirklichkeit an liebender Zuwendung mangelt. Beim Weltgericht stehen wir nackt da.

„Was zählt?“ Carl Osterwald wiederholt: Jede Handlung, die einen Bedürftigen sättigt, wärmt und wohnen lässt.

Er fordert: „Wir dürfen uns nicht in die Kriegsgewalt hineinziehen lassen. … in eine Welt, in der Menschen zum Töten freigegeben werden. … Krieg ist gegen Gottes Willen.“ Denn es gelte das Gebot: „Du sollst nicht töten.“ Wir alle seien verführbar. „Wir haben alles in uns: das Gute und das Böse.“ Wenn begonnen werde, Menschen in Gute und Böse aufzuteilen, dann „fängt der Krieg an. Es ist verboten, Menschen zu Feinden zu machen.“

Wir hätten den „unglaublichen Schatz, in einem Rechtsstaat leben zu dürfen“, in dem die Sonne der Gerechtigkeit aufgehe. Im Herbst 2015 stünden wir vielleicht vor einer weltgeschichtlichen Umbruchsituation. Wir müssten uns für die richtige Weisung entscheiden. „Wenn wir unsere Grenzen schließen, geht die Sonne der Gerechtigkeit unter, dann haben wir verloren.“

Carl Osterwald zitiert noch einmal die ersten Liedverse. Er singt fast. „O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.“


Nach dem Gottesdienst zogen die Gläubigen zum Ehrenmal.

Kränze wurden im Gedenken an die Opfer von Gewalt und Krieg niedergelegt.

Auch an den Kriegsgräbern auf dem Friedhof hielten die Gläubigen inne. Superintendent Tido Janssen sprach das „Franziskanische Friedensgebet“.