Sie leben doch weiter

„So leben sie doch weiter“
Die Millionen Ermordeten – ermordet aus irren und verrückten Beweggründen. Einfach, weil sie zum Volk Israel gehörten. Das war ihr Todesurteil.
Herausgerissen aus Familien, aus Kultur- und Freundeskreisen, aus dem Berufsleben und der Nachbarschaft.
Es waren nicht viele, die wollten, dass sie bleiben, die gegen ihre Deportation die Stimme erhoben. Vereinzelt ja, aber nicht in großer Zahl, was vielleicht die Situation verändert hätte. Doch Spekulationen helfen nicht weiter.

… und so lebten sie doch nicht weiter:
Die Millionen Ermordeten – ermordet auch, weil niemand nachhaltig für sie Partei ergriff. Allein gelassen, ein ganzes Volk. Den grausamen Folterern und effizient Tötenden überlassen. Wer sich tief hineinversetzt, kann, wenn es still wird, die Schreie, das Wimmern und Schluchzen, das Schweigen hören.

Doch irgendwie leben sie weiter – auch im schlechten Gewissen Vieler. „Man hätte doch…“, „Man müsste doch…“, „Man könnte doch…“ – hat man aber nicht! Belastend bis heute, auch über die damals handelnden Personen hinaus, bis in die nächste Generation, bis zu uns heute.

„So leben sie doch weiter“ – auch durch viele offene Fragen. Fragen nachfolgender Generationen: „Wie konntet ihr nur?“ „Warum?“ „Wieso?“. Sie leben weiter durch Hilflosigkeit und Ratlosigkeit Hinterbliebener und Überlebender. Manche berichten davon, dass sie Angst bekamen, als sie nach vielen Jahren erneut deutschen Boden betraten. Manche haben sich davon nicht einschüchtern lassen und haben ihr Leben dem Andenken und Erzählen gewidmet, damit es nicht noch einmal passiert. Überlebende haben durch ihre Erzählungen Schülerinnen und Schüler, Erwachsene und viele, die es wissen wollten, betroffen gemacht – und durch die Betroffenheit hindurch sensibilisiert. Ja vielleicht sogar aufgeweckt. Sie sehen auf einmal die Menschen und die Welt anders. Erkennen Ausgrenzung und Diskriminierung, erkennen die Saat des Hasses, aus der Gewalt wachsen wird. Und sie lernen, sich dagegen zu wehren. Durch Aufklärung, durch Reden, durch Hinterhergehen – durch ein neues und achtsames Menschsein.

„So leben sie doch weiter“
Unser Gedenken unterstützt ihr Weiterleben. Auf diese Weise müssen sie unbedingt weiterleben. Hier werden sie uns zu einem Kompass und einer Orientierung. Durch sie dürfen wir schamvoll sehen, wohin Ignoranz und Schweigen führen. Sie motivieren uns, zumindest diejenigen, die jetzt hier sind, zu bewußtem Umgang miteinander. Sie mahnen uns, aufkommenden Hass im Keim zu ersticken. An manchen Orten ist dies schon zu spät. Es passiert wieder, was nicht noch einmal geschehen sollte. Unser Einsatz ist darum dringender denn je gefordert. An dieser Stelle brauchen wir sie einmal mehr. Es ist nicht egal, ob wir ihrer gedenken oder nicht. Wir brauchen sie, die unschuldigen Toten, wir brauchen sie, die in unserer Mitte Stigmatisierten, wir brauchen sie, die arglos Hingerichteten – wir brauchen sie, um immer wieder neu wach zu werden. Und wenn es das 100ste Mal ist, dass ihr Schicksal uns weckt. Dann eben wenigstens jetzt. Wir brauchen sie. Sie sind die Quelle unseres „Neins!“ zu menschenverachtendem Verhalten. Sie sind der Wurzelgrund unseres „Neins!“ zu einem Umgang, der Anderen ihr Menschsein abspricht. Sie sind das Fundament unseres „Neins!“ zu Ausgrenzung, Rassenwahn und Diskriminierung.

„So leben sie doch weiter“
Vorstellungen über ein Leben nach dem Tod gibt es im Glauben des Volkes Israel eine ganze Menge. Sie sind nicht einheitlich auf eine bestimmte Sicht der Dinge festgelegt. Dennoch haben sie einen gemeinsamen Nenner. Jede dieser Tradition geht davon aus, dass es nach dem Tod weiter geht.
Hinterbliebene sind eingeladen, das Kaddisch zu beten. Es ist ein provozierendes Gebet, weil es den Gott Israels lobt. Auch jetzt, auch hier? Alan Ginsberg, Imre Kertész, Lenard Bernstein und nicht zuletzt Leonard Cohen setzten sich wie viele andere Menschen damit auseinander.
Leonard Cohen hat auf der letzten CD vor seinem Tod einen Song geschrieben, in dem das Kaddisch vorkommt. „You want it darker“, Du willst es dunkler – eine Abrechnung mit Gott, der Massaker und Holocaust zulässt. Und Cohens lyrisches Ich bekennt: „Hineini, Hineini – I’m ready my lord.“ Hier bin ich, ich bin bereit, Herr.
„Hineini“, hier bin ich, sagen in der Bibel Abraham, Isaak und Jakob, wenn Gott sie ruft. Für diesen Song hat Cohen den Kantor und den Chor einer Synagoge aus Toronto engagiert. Es ist die Synagoge seiner Kindheit.

Vielen Fragen und Ungereimtheiten stehen in Raum und Zeit. Zufriedenstellend Antworten sind nicht zu erwarten. Diesen Zustand gilt es zusammen auszuhalten. Auch darin leben sie weiter, dann sogar im Schulterschluss mit allen, die sich den bedrängenden Fragen stellen und es aushalten, ohne Antworten zu leben.

„So leben sie doch weiter“ – sie selbst, ihre Persönlichkeit – zumindest, wenn wir ihrem eigenen Glauben Glauben schenken.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.