„Wenn es den Himmel auf Erden gibt…“

Es regnete Samstagmorgen. Auf dem Pflaster hinter dem Bonihaus in St. Ludgerus Aurich zeigten zwei trockene Flecken im „Himmel auf Erden“ den Platz an, auf dem soeben noch zwei Bullis geparkt hatten.

Jetzt waren sie weg… Sekundenlang standen die zurückbleibenden Helferinnen und Helfer in der Tür und sprachen kein Wort. Für einen Moment breitete sich eine kleine Leere aus – die Freunde aus Litauen waren abgefahren. Die Woche mit ihnen in Ostfriesland lag mit einem Mal hinter ihnen – bunt, prall gefüllt, ereignisreich, voll herzlicher Wärme und Dankbarkeit auf beiden Seiten.

Im Regen bringt Elisabeth ihre beiden Übernachtungsgäste am Abschiedsmorgen zum Bonihaus: die Schwestern Jolante (vorn) und Miriam.

Ein letzter Händedruck nach reichlich Umarmung von allen Seiten: Birute und Steffi. Da floss nicht nur der Regen.

Den Abschiedsabend am Freitag hatten Gastgeber und Gäste gemeinsam mit einer Heiligen Messe in der St.-Ludgerus-Kirche begonnen. Aus allen vier Neuauwiewitt-Gemeinden waren Freunde gekommen. Zelebrant Pfarrer Johannes Ehrenbrink machte deutlich, wem sie die gute Gemeinschaft letztendlich zu verdanken haben. Ohne den Glauben an Jesus Christus hätten die Ostfriesen und die Litauer nicht zusammengefunden.

Heilige Messe mit den Geistlichen v.l. Carl, Valdas, Johannes, Arunas und Darius. Links im Bild Birute und Uli, die die Fürbitten vortrugen.

Vier Geistliche konzelebrierten bei der ebenso feierlichen wie schlichten Messe: die Gast-Priester Arunas, Darius und Valdas sowie Carl Borromäus. Einleitung, Fürbitten und Evangelium erklangen in beiden Sprachen, und zur Heiligen Kommunion stimmten die Gäste leise und getragen ein Lied an, das alle beim Gang nach vorn begleitete. Der kleine Chor gab noch singend Geleit, als er selbst schon unterwegs war, um den Leib Christi zu empfangen. Das war wunderschön.

Munter ging es anschließend im Bonihaus zu – allerdings mit ganz leichter Verzögerung… Die meisten hatten Kohldampf mitgebracht, alles war mit bestem Geschmack gedeckt, nur Essbares war nicht in Sicht. Das Buffet kam in allerletzter Minute pünktlich und war eine wahre Wucht.

Im Lauf des Abends gab es viele Dankadressen. Birute übersetzte wie immer kenntnisreich die Ansprachen ihrer Landsleute, auch die von Dechant Arunas. Er überreichte Johannes einen großen hölzernen Honigtopf mit vielen, vielen Holzlöffeln; Birute sprach in fast biblischer Schönheit, jeder Löffel und jeder geschöpfte Tropfen Honig stünden für die Liebe, die weitergereicht werde und die sie und ihre Landsleute so reichlich in Neuauwiewitt geschenkt bekämen.

Arunas überreicht den aussagekräftigen Honigtopf.

Johannes freut sich sehr.

Arunas sagte mit Goethes Faust: „Werd ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön.“

Das Zitat machte deutlich, wie wohl die Gäste sich fühlten, und zugleich ehrte es die Kultur der Gastgeber.

Valdas überreichte eine große Fotowand. Sie dokumentiert acht Jahre Freundschaft (am Abschiedsmorgen entdeckte Alfred an prominenter Stelle im Bonihaus einen freien Nagel und hängte das Bild sogleich auf. Die Litauer freuten sich, dass ihr Geschenk so schnell und effektvoll zu Ehren kam). Für die Vertreter aller Gemeinden hagelte es kleine, hübsche und mit Bedacht ausgewählte Geschenke.

Valdas freut sich darüber, wie gut sein Bild-Geschenk ankommt. In den letzten Tagen hat er reichlich fotografiert. Das lässt hoffen…

Onno überreichte Alfred für die Malteser einen Bildband, der die Schönheit Litauens eindrucksvoll belegt. Auch Darius und Schwester Jolante wendeten sich mit lieben Worten an ihre Gastgeber.

Rita dankte für Neuauwiewitt. Sie sprach von der Sonne, die mit den Litauern in Ostfriesland angekommen sei und die Herzen gewärmt und bewegt habe. Die vier ostfriesischen Gemeinden fühlten sich immer wieder durch die Freundschaft bereichert.

Rita sagt Danke. Birute, unersetzliche Kraft, übersetzt.

Es war gut, dass die Litauer gleich mehrere Jugendliche mitgebracht hatten und dass fast alle sehr gut Englisch sprachen. So konnten sich, wenns an deutschen oder litauischen Vokabeln haperte, alle gut verständigen.

Natürlich wurde an dem Abend viel gesungen. Schließlich stammen die Gäste aus jenem Land, in dem Gesang im Lauf der Geschichte immer wieder sogar politische Sprengkraft entwickelt hat, zuletzt bei der „Singenden Revolution“, als 1990 und 1991 Hunderttausende öffentlich in Parks ihre von den Sowjets verbotenen alt-vertrauten Volkslieder sangen. So forderten sie die Unabhängigkeit für ihr Land, zeigten Einigkeit und Gefühl, protestierten friedlich und kulturvoll und riskierten dafür, nach Sibirien deportiert zu werden. Einige verloren ihr Leben. Doch 1991 kam, was sie sich ersungen hatten. Litauen wurde ein souveräner Staat.

Auch heute werden an Feiertagen in Litauen Volkslieder gesungen. Wenn’s danach geht, hatten die litauischen Gäste in Neuauwiewitt jeden Tag Feiertag. Gesungen wurde bei jeder Gelegenheit – vor allem, um Danke zu sagen und um Segen zu bitten.

Das war auch am Donnerstag so. Deutsche und Litauer ließen sich nach Münster chauffieren. Die Unterhaltung hatten sie gleich mit an Bord – in Form von Fahrer Lothar, der hörbar aus dem Ruhrpott stammte. Alle durften Lothar duzen.

Lothar schaffte es, gefühlt eine halbe Stunde lang blödelnd Bordelektronik mit Klimatronik – und für die Herren die Beschaffenheit der Toilette – zu erläutern. Großartig kündigte er an, der Bus habe über jedem Platz zudem eine Servicetaste. Alle starrten auf die Taste über ihren Köpfen. Und noch großartiger sagte Lothar: „Wenn Sie diese Taste drücken, kommt – niemand.“

Einer kam doch. Allerdings hatte Steffi ihn herbeigerufen: In Münster stand Stadtführer Franz-Josef parat. Auch der hatte Unterhaltungswert und schaffte es, die Stadt binnen einer Stunde als studentisch-kulturreich-liudgerianischen Bischofssitz mit barbarisch-westfälischer Friedensgeschichte herüberzubringen (55.000 Studenten unter 300.000 Einwohnern, alle mit ausgeprägtem Hang zum Zweitfahrrad, daher gesamt 500.000 Räder).

Franz-Josef erklärt Münster und findet die Kopfkappen seiner Gruppe ganz toll. Alfred hat sie besorgt – mit den Wappen von Litauen und Ostfriesland, dem Neuauwiewitt-Logo und dem Malteser-Logo.

Franz-Josef konnte einen – vor dem 2014 eröffneten LWL-Museum – regelwidrig parkenden Laster als Teil eines Gesamtkunstwerks erklären und wusste schon jetzt, dass am 2. April 2020 Hunderte von Menschen zusehen werden, wie ein städtischer Bediensteter von einer Hauswand ein Schild abnimmt, auf dem nur dieses Datum steht: 2. April 2020.

Auch das, wen wundert’s, ist natürlich Kunst oder soll welche werden – die Kunst der Begegnung. Heutzutage würden Leute auf der Straße allenfalls noch jemanden ansprechen, wenn sie Uhrzeit oder Weg wissen wollten. Am 2. April 2020, so die Idee des Künstlers, seien Straße und Uhrzeit ja geklärt, und man könne sich über anderes unterhalten (hoffentlich finden sie ein drittes Thema…)

Unsere Gruppe besichtigte im Schnelldurchgang den St.-Paulus-Dom, Bischofssitz in Münster.

Das alte Rathaus der Stadt ist Symbol für den Westfälischen Frieden, der hier nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs gefeiert wurde.

Blick durch die Arkaden des Alten Rathauses ins Münsteraner Leben – ohne Autos in der Innenstadt.

Aufmerksame Zuhörer für Franz-Josef.

Interessierte Blicke im Dom. Luca und Noah (vorn) waren die jüngsten Teilnehmer unserer Gruppe.

Besonders ausführlich schilderte Franz-Josef die Geschichte der Täufer im Mittelalter. Sie orientierten ihr Leben an den christlichen Urgemeinden und forderten die Erwachsenentaufe. In Münster gewannen sie große Bedeutung, wurden allerdings vertrieben oder flohen. Drei Anhänger wurden gefangen genommen. Selbst renommierte Reiseführer beschreiben nur, dass sie hingerichtet wurden und dass am Ende drei verstümmelte Leichen in Käfigen zur Abschreckung in den Turm von St. Lamberti gezogen wurden. Die Körbe hängen noch immer dort.

Franz-Josef schilderte Einzelheiten, die für Kinderohren nicht unbedingt geeignet sind.

Überall war in Münster etwas zu entdecken.

Nach der Führung war viel freie Zeit zum Bummeln, Besichtigen und Kaffeetrinken. Die litauischen Schwestern entdeckten in einer Kirche einen Ruheraum mit großen Matten. In der Mitte lag ein Kreuz mit Korpus. Die Schwestern betteten sich nieder und dösten ein bisschen.

Schwester Miriam erzählte später munter: „Münster ist meine Lebensstadt. Hier gibt es so viele Fahrräder.“ Und man könne gleich neben Jesus schlafen.

Bei der Stadtführung.

Und flotten Schrittes ging es nach Führung und Bummel zum Bus. Im Hintergrund die Türme des Doms.

Von Münster aus ging es in die nahe gelegene Heimat von Steffi: zum Hof ihrer Familie nach Bösensell, das zum nordrhein-westfälischen Senden gehört. Dort betreibt Steffis Bruder Ulrich als Landwirtschaftsmeister mit seiner Familie Schweinemast, Geflügelaufzucht, Geflügelmast und Ackerfutterbau.

Sohn Felix (16) erklärte sachkundig, engagiert und als Profi, wie der Betrieb läuft. Er konnte nahezu jede Frage rund um das Anwesen erklären, „denn ich will den Hof mal übernehmen.“ Respekt hat der junge Vielwisser gleichwohl vor der Aufgabe. „Der Hof ist schon ziemlich alt.“

Um 1600 wurde hier in Bösensell schon Land bewirtschaftet, erzählte der Großvater von Felix (und Vater von Steffi) Hermann Holle. Er zieht sich mit Frau Maria demnächst aufs Altenteil zurück. Auch da werden die beiden wesentliches Herzstück des Hofes bleiben. Hermann Holle hat nie woanders gewohnt. Maria Holle lebt seit einem halben Jahrhundert dort. Ihre Kinder, darunter Steffi, sind alle am Kley 19 geboren.

Felix (Bildmitte) erklärt die Landwirtschaft.

Die Familie empfing ihre Gäste aus Litauen und Ostfriesland überaus herzlich neben dem Haupthaus auf einem lauschigen und hübsch hergerichteten Platz, ehe Felix zur Führung einlud. Das Wissen sprudelte nur so aus ihm heraus. Er sprach über die 6000 Schweine, die im Schnitt 800 Gramm pro Tag zulegen und mit 117 bis 120 Kilogramm schlachtreif sind. Dreimal im Jahr wird der komplette Bestand umgeschlagen, so dass insgesamt rund 18.000 Tiere pro Jahr an Viehhändler verkauft werden.

Immer wieder passierten während des Besuchs aus Ostfriesland Vieh-Transporter das Gelände, um Schweine zu holen und nach Rheda in eines der größten Schlachthäuser Europas zu fahren. Dort werden die Tiere getötet, zerlegt und, O-Ton Felix, „zum Beispiel zu Schnitzeln verarbeitet“.

Viehtransporter mit den Gästen aus Aurich und Alytus; im Bild vorn rechts Johannes.

Felix berichtete, wie optimiert die Abläufe auf dem Hof sind, zu dem 180 Hektar Land gehören. Hier wird ein Großteil der Futtermittel für die eigenen Schweine und das Geflügel angebaut.

Weizen, Gerste und Mais lagern als hochwertiges Futter in eigenen Silos. Nicht nur zu Weihnachten fressen die Schweine liebend gern energiereiche Schokoladenreste, die die Holles von Süßwarenherstellern aufkaufen. „Möchte mal jemand probieren?“, fragte Felix munter. Spontan fand sich niemand.

Uli wollte wissen, wie oft die Schweine gefüttert werden. 16 Mal pro Tag prüfen Computer, ob die Tröge noch gefüllt sind. Ulis Kommentar: „Traumhaft!“

Traumhaft findet Felix den neuen Trecker im Betrieb, den er neuerdings sogar fahren darf, denn er hat gerade seinen Führerschein gemacht. 240 PS hat er denn unter sich und hintendran (am Schlepper) einen Güllewagen mit 20.000 Liter Fassungsvermögen. Das Gefährt lässt sich programmieren und findet dann „eigenständig“ für die vorgesehene Arbeit die bestmöglichen Routen.

Links im Bild Teil eines Treckerreifens vor Silos.

Felix lud die Gäste ein, sich auf den Fahrersitz zu schwingen. Das schwere Fahrzeug stand auch den Schwestern Jolante und Miriam sowie Michael ausgezeichnet.

Die Schwestern im Trecker: Schaut her, wie gut der uns steht.

Für Michael ein Erlebnis: Er saß perfekt auf und ab. Im Bild rechts Steffis Bruder Jürgen, der sich mit seiner Frau Lina viel Zeit für die Gäste nahm.

Viel Wissenswertes erfuhren die Hof-Gäste.

Nach der Führung meinte Felix: „Dann können wir zum gemütlichen Teil übergehen.“ Im Garten wartete ein tolles Essen: Grünkohl untereinander und Möhren untereinander mit allerlei Fleischernem, das nicht aus eigener Schlachtung stammt, denn die überlassen die Holles den Schlachterprofis.

Hhmmm, alles war sooo lecker und liebevoll arrangiert und konnte, nachdem der Grünkohl auch von Seiten der Litauer als Lapiniai kopūstai identifiziert war, mit ungeschmälerter Freude verspeist werden.

Leckerer Grünkohl und viele andere Köstlichkeiten mit dankbaren Abnehmern…

Laura und Miriam prüfen, ob das Bier Alkohol enthält.

Jan (Filius von Lina und Jürgen) und Noah vergnügen sich auf ihre Weise. Der Nachtisch ist mit dabei.

Ulrike und Horst bedankten sich bei Familie Holle mit einem Blumenstrauß für den informativen und gastfreundlichen Nachmittag voll kulinarischer Genüsse. Kein Zweifel: Auch Steffis Familie hatte den Aufenthalt der Gäste genossen.

Ulrike und Horst überreichten Blumen. Im Bild Gastgeberin Maria Holle mit Tochter Steffi.

Die Großeltern Maria und Hermann Holle mit Felix.

Ganz unkompliziert ging’s noch in die Küche zum Abwasch. Schnell war alles wieder in den Schränken. Und Lothar brachte die inzwischen leicht ermattete Schar spät abends zurück nach Aurich.

Laura beim Abwasch.

Zum Dank sangen (und tanzten) alle gemeinsam ein litauisches Lied. Sie erlebten ein kleines bisschen den Himmel auf Erden.

Über den folgenden Freitag berichtet Markus:

„Der letzte volle Tag der litauischen Gäste diente dazu, Kraft für die lange und zweitägige Rückfahrt zu tanken, was bei allen Beteiligten sehr gut ankam. Den Vormittag zwischen Frühstück und Mittagessen konnte jeder für sich selbst gestalten. Die nahegelegene Auricher Fußgängerzone mit einer großen Anzahl an Bekleidungsgeschäften und einer sehenswerten Häuserfassaden kam den Gästen sehr gelegen. Zum Mittagessen wurden herzhafte Suppen mit einer deftigen Fleischeinlage serviert, die dankenswerter Weise von einem Gemeindemitglied zubereitete wurden.

Da das Wetter sich nun nach dem Essen sehr unbeständig zeigte, wurde das nachmittägliche Programm zur Wahl gestellt. Pfarrer Ehrenbrink bot eine Fahrt nach Neuharlingersiel an den Strand an und zum anderen weitere Stunden der Freizeit und der privaten Gestaltung. Schnell wurde deutlich, dass die Litauer sich von ein paar Regenschauern die Stimmung nicht nehmen lassen wollten – und tatsächlich: Trockenen Fußes kam die Gruppe bis an den Strand.

Da nun jedoch zu aller Erstaunen auch Wasser am Strand vorhanden war, gingen viele dazu über, ihre Füße doch mit dem salzigen, warmen Nass zu benetzen. Außer Pfarrer Valdas. Er überraschte die anderen Mitreisenden mit einem augenscheinlich spontanen Sprung in die Nordsee.

Jedoch ließen die vorhandene Badehose und das eingepackte Handtuch im Nachhinein doch sehr an der Spontanität dieser Aktion zweifeln. Nach einem kurzen Aufenthalt in einer urigen Seemannskneipe traten die Gemeindemitglieder mit ihren Gästen den Rückweg an.

Soweit Markus.

Am Abreisetag sagte Birute im Namen der litauischen Gruppe noch einmal danke für die Gastfreundschaft, die hergeschenkte Liebe und die Herzlichkeit, mit der sie in Neuauwiewitt bedacht worden seien. Sie guckte verschmitzt. „Nun wartet jeder von uns wieder auf eine Einladung.“ Denn, „wenn es den Himmel auf Erden gibt, dann liegt er hier.“

Dann machte sie allen, die sich in der vergangenen Woche ins Zeug gelegt hatten, um den Gästen einen schönen Aufenthalt zu ermöglichen, ein großes Kompliment. „Hier wurde unser Kopf ganz frei. Hier mussten wir in den letzten Tagen nichts denken. Jetzt fangen wir erst wieder an, unsere Köpfe zu füllen.“