Zwischen den Buchdeckeln Dokumente unfassbaren Leids
Superintendent Tido Janssen hält ein Buch in der Hand. Es schaut vergilbt aus. Es ist alt und abgegriffen. Zwischen den Deckeln sind Dokumente unfassbaren Leids eingebunden.
Pastor Friedrich hat 1933 – in der Zeit zwischen den großen Kriegen – die Namen der Gefallenen des Ersten Weltkriegs eingetragen. Tido Janssen hält das Kirchenbuch während seiner Predigt zum Volkstrauertag im ökumenischen Gottesdienst in Lamberti, als wolle er es wiegen. Das, was er herausliest, ist zu schwer, um es zu gewichten.
Janssen liest die Namen junger Männer vor, darunter viele nicht einmal volljährige Jungen aus Aurich, Hans, 19 Jahre, Harm, 20 Jahre… 344 Schicksale unter 17 Millionen Toten des Ersten Weltkriegs, sinnlos verheizte Menschen. Pastor Friedrich hat die 344 Namen vor über 85 Jahren festgehalten.
Hat er sich damals vorstellen können, dass sie noch einmal eine Rolle übernehmen würden – ausgerechnet in einer Generation, die ohne Krieg im eigenen Land aufgewachsen ist?
Tido Janssen fragt, ob Friedrich habe sagen wollen, dass der Krieg Wahnsinn ist und dass er nur den Tod bringt?
Janssen schildert die Sorgfalt, mit der sein Vorgänger die Einträge vorgenommen hat. Manche Überschrift im Kirchenbuch hat er sauber mit angelegtem Lineal durchgestrichen. „Tag und Ort des Begräbnisses“ hatte es auf den vorgedruckten Seiten geheißen. Friedrich hatte „Tag und Ort des Todes“ daraus gemacht. Begräbnisse waren nur selten möglich.
Aus der Überschrift „Name des Begrabenen“ machte Friedrich „Name des Gefallenen“.
Janssen hinterfragt selbst noch dieses Wort. „Gefallener?“ Wer falle, stehe wieder auf. Die jungen Männer seien nicht wieder aufgestanden. Nichts habe mehr gestimmt. Der Frieden nicht, die Art zu sterben nicht, das Alter nicht, die vorgedruckten Zeilen in den Kirchenbüchern nicht, auch manche Gebete und Predigten nicht.
Dabei hätten sich im Krieg nicht Feinde gegenüber gestanden, sondern vordem vernetzte Gesellschaften. Janssen nimmt Bezug auf die Lesung aus dem Buch Jeremia. Der Prophet schilderte Gottes Erschrecken über die Untaten der Menschen. Sie hätten sich über alle Gebote hinweggesetzt. Dabei heiße es: „Ihr wisst doch, was zu tun ist!“ Tido Janssen zitiert eines der göttlichen Gebote: „Du sollst nicht töten.“
Er spricht von einer Globalisierung der Mitleidlosigkeit. Er ruft dazu auf, „da, wo wir leben, Frieden zu stiften. Weil wir Gottes Kinder sind.“
Nach dem Gottesdienst schildert Bürgermeister Heinz-Werner Windhorst am zentralen Mahnmal die Schrecken vergangener und gegenwärtiger Kriege mit ihren Toten, Vergewaltigten, Traumatisierten, Vertriebenen und Geflüchteten.
Er fragt nach den Botschaften der Kriege. Da sei vor allem das Wissen um den Wert von Frieden, Freiheit und Demokratie. „Doch das sind kostbare Güter, die es zu bewahren und zu schützen gilt.“
Im Frieden, so Windhorst, gebe es immer Chancen, alle Parteien an einen Tisch zu bekommen und Konflikte einvernehmlich zu lösen. Das gelte auch für ein gutes Miteinander vor Ort. Er fragt: „Hören wir immer zu, wenn andere ihre Argumente vorbringen? Zeigen wir immer unsere Solidarität und Unterstützung, wenn Menschen in unserem Umfeld beleidigt oder bedrängt werden?“
Windhorst schildert die Demokratrie als ein Geschenk, das gepflegt werden muss, damit es sich bewähren kann.
Und wie bewährt es sich? Demokratie ist eine anstrengende und zähe Sache. Sie hält selten einfache und schnelle Antworten parat, wie Populisten behaupten. Ihre Prozesse und Entscheidungen brauchen einen bestimmten Nährboden, sonst verkümmert sie:
Sie braucht Zeit, in der alle, die etwas sagen wollen, hinreichend zu Wort kommen. Sie braucht Sachdiskussion, in der die notwendigen Informationen gesammelt und eingeordnet werden. Sie braucht Kontroverse und Respekt, der allen Argumenten Geltung verschafft – in der Demokratie sogar besonders den eher missliebigen Argumenten.
Denn Demokratie ist bekanntlich nicht allein das Recht der Mehrheit zu bestimmen (die Mehrheit stattete Hitler mit furchtbarer Macht aus), sondern das Recht der Minderheit, gebührend gehört zu werden und die Debatte bunt zu machen. Erst wenn in einem oft mühseligen Prozess alles gewichtet ist, schält sich die beste Lösung heraus. Wer vorschnell einseitig Pflöcke einschlägt, zieht Zäune, die nicht versöhnen, sondern ausgrenzen und spalten.
Demokratie ist ein Geschenk – ein Geschenk, das kostet: Zeit, Nerven, Argumente, Achtsamkeit und vor allem Respekt. Für weniger ist Demokratie nicht zu haben.
Wer damit dient, handelt sich nach getaner Friedensarbeit Frieden ein.
Oder wie der Bürgermeister sagt: „Heute kommen Menschen zusammen, die Frieden und Menschenrechte als Richtschnur ihres Handelns ansehen.“ Sie setzen sich in ihrem persönlichen Umfeld und weit darüber hinaus dafür ein, „dass wir die Botschaft der Toten hören und ernst nehmen.“
Text und Fotos: Delia Evers